Inzest – Harmonie

von Anna Etienne

Weit hinter der großen Stadt, inmitten von Muschelkalk- und Sandsteinhängen, liegt das Reich der Harmonie. Hier sind Sehnsüchte überholt. Ich kam hier an, nicht ahnend, welch Unheil unter all der Nettigkeit begraben lag. Ich möchte davon berichten, wie mir Erleuchtung widerfuhr.

Mein Zimmer, mein Bett. Ich wache auf, neben mir liegt jemand. Jetzt weiß ich wieder, woher ich Dich kenne, denke ich. Du bist der ehemalige Mitbewohner von Lars, der mal auf einer Party mit Melanie geknutscht hat. Hast Du nicht auch mal zusammen mit Paula studiert? Du hast doch Deine Ex völlig fertiggemacht! Ach die, die kennst Du doch auch schon seit Kindertagen. „Liebling, ich weiß alles über Dich!“

Wie betrunken waren wir gestern? Gestern, wieder so ein Tag, der sich nahtlos einreihen lässt in das Bild einer monoton gewachsenen Kleinstadt. Grillen im Paradies. Das Paradies, ein kleiner Garten der Lust, der unserer studentischen Trägheit einen Platz zu Entfaltung bietet. Nach einer langen Winterdepression begibt man sich im Frühling auf die Suche nach einem passenden Partner, um im Sommer, wenn sich die Kulturelite um das Theaterhaus versammelt, in gemeinsamer Euphorie den neuesten Hype zu würdigen. Wir saßen und aßen, alle im goldenen Schein der Abendsonne, mit zwitschernden Vögeln und wilden Füchsen, dem Leuchten der Grillkohle zugewandt. „Wie romantisch!“, haben sich da wohl auch Chris und Jenny gedacht und sprachen über die Vornamen ihrer zukünftigen Kinder. Ob er ihr jemals das mit Angela oder mir erzählen wird? Na, unsere Namen werden die Kleinen wohl nicht bekommen. Wie romantisch!

Das „München des Ostens“ hörte ich die Presse loben. Ich lebe in der wohlbehütetsten Stadt, die ich kenne. Eine Stadt, deren Seele zu schrumpfen scheint. An so einem Abend sehne ich mich nach etwas weniger Normalität und Gefasstheit, nach etwas mehr Freaks, nach Fremden und Querdenkern, nach Exzessen. Aber hier bleiben wir studentisch. Übersättigte Idylle wird erstickt in den Tiefen des kleinstädtischen Nachtlebens. Im Rosenkeller, der kuscheligen Höhle der Erstsemestler, die begeistert einander kennenlernen. Anwesend auch jene Elftsemestler, die nicht zuletzt wegen der Erstis hier sind und sich unauffällig unters Publikum mischen. Wohin soll es heute Abend noch gehen?

Die Sehnsucht zwingt mich ins Kassablanca, das Tor zur schönen Freiheit. Hier wird Großstadtleben konstruiert, wenn Mathias Kaden, der Star der Nachbarmetropole, zum Style-Happening lädt. Das Beste kommt eben von hier oder aus der Region. Für eine Nacht werfe ich den Blick in eine ausschweifende Welt und lasse mich gehen mit der Gewissheit, dass ich mich noch immer in einer heilen Welt befinde.
Beim gemeinsamen Frühstück stelle ich fest, dass Du auch ein guter Freund von Ina bist. Ihr kennt euch noch aus der Schulzeit. Mit Melanie hattest Du dann eine kurze Affäre, was ich auch von Julia weiß. Weißt Du gar nicht. Auf ein Abenteuer mit Paula haben wir uns beide schon eingelassen. Ich trinke einen riesigen Schluck Kaffee und stelle mir vor, wie ich Hand in Hand mit all meinen Freunden im Sonnenschein durch die Stadt hüpfe, und frage mich, mit welchen meiner Freundinnen Du denn schon ein inniges Verhältnis pflegtest. Mit der Frage, ob Du bei der Kulturarena neben mir sitzen willst, bringe ich Dich noch zur Tür.
Es zieht sich ein roter Faden durch diese Begebenheiten. Und in keiner Weise lassen meine Gedanken ab von jener Feststellung, welche unaufhaltsam probiert, sich in mein Bewusstsein zu zwängen. Wir sind eine Mannschaft, ein Team. Jena ist ein Inzestdorf, manchmal jedenfalls.


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