„Statt Sonne nur eine Hochhauswand“

Gated Community in der Nähe von Buenos Aires (Foto: Alex Steffler)

Die Entwicklung des urbanen Raums sorgt nicht nur in Stuttgart und Istanbul für Konfliktstoff: unique sprach mit der Geografin Corinna Hölzl über Stadtpolitik, Gentrifizierung und urbanen Aktivismus in Santiago de Chile und Buenos Aires.

unique: Frau Hölzl, was unterscheidet die Urbanisierung in Lateinamerika von der in Europa oder Nordamerika?
Corinna Hölzl: Das wesentliche Merkmal ist eine vergleichsweise hohe Dynamik der Urbanisierung. Ausschlaggebend hierfür sind im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens eine im Vergleich zu Europa viel stärkere und frühere Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung von beispielsweise Boden, Wasser und Bildung. Zweitens eine prägnantere Rolle informeller Praktiken – das gilt übrigens nicht nur für spontane Landbesetzungen unterer Schichten, sondern auch für die Errichtung von Gated Communities. Damit einher geht eine tief greifende sozialräumliche Differenzierung von Wohnquartieren. Bei diesen Phänomenen gibt es auch klare Parallelen zu Nordamerika.

In Ihrem Buch Protestbewegungen und Stadtpolitik sprechen Sie von einer „Entpolitisierung des Urbanen“ in Lateinamerika. Was ist damit gemeint?
Dazu muss ich ein bisschen ausholen: In der angelsächsischen Stadtforschung ist seit einigen Jahren oft die Rede von postpolitischen oder postdemokratischen Städten, angelehnt an philosophische Schriften von beispielsweise Jacques Rancière oder Chantal Mouffe. Ganz einfach gesagt meint man damit, dass Möglichkeiten wahrer demokratischer Mitbestimmung, im Sinne von echten konfliktiven Auseinandersetzungen, immer weniger gegeben sind. Denn verschiedene Mechanismen haben zu einer konsensuellen Gesellschaft geführt, gegen die der „normale“ Bürger im Prinzip nichts einwenden kann. Zu diesen Mechanismen zählt, dass politische Entscheidungen immer mehr auf Expertenwissen statt politischem Aushandeln basieren. Charakteristisch sind auch populistische Strategien und Diskurse und das als alternativlos präsentierte kapitalistische Gesellschaftsmodell. Auch die herrschende soziale Ungleichheit bedeutet, dass ein Großteil der Bevölkerung politisch ausgeschlossen ist; Chile sticht da mit einem Gini-Koeffizienten [statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichverteilung, Anm. d. Red.] von 0,52 selbst im lateinamerikanischen Vergleich hervor. Für Lateinamerika finde ich den Begriff der Entpolitisierung aus verschiedenen Gründen geeigneter als Postpolitik – nicht zuletzt, weil „post-“ für die eher jungen Demokratien Lateinamerikas irreführend ist. Von einer „Entpolitisierung des Urbanen“ zu sprechen finde ich treffend, weil das Urbane eigentlich ja mit Begegnung, mit Konfrontationen assoziiert wird und deren zu beobachtende Unterbindung nicht nur die Stadtplanung, sondern das alltägliche Miteinander betrifft.

Der Kontinent weist ja einen immensen Urbanisierungsgrad auf. Welche Besonderheiten kennzeichnen für Sie die Situation in Santiago de Chile und Buenos Aires?
Charakteristisch ist nicht nur der Grad der Verstädterung im baulichen Sinne, sondern die politischen und gesellschaftlichen Strukturen dahinter. Interessant ist hierbei in Santiago, dass ein ausgeprägtes Konsensprinzip vorherrscht: Eliten aus Politik und Ökonomie fällen Entscheidungen, Experten sorgen für die Umsetzung. Dabei werden die Interessen der Bürger ignoriert. Das heißt zum Beispiel zwar, dass es sehr viel sozialen Wohnungsbau gibt – aber man hat auch eine äußerst hohe Segregation generiert, mit hübschen Vierteln in der Innenstadt und trostlosen, teils ghettoähnlichen Armenvierteln am Stadtrand. Typisch ist auch eine starke Zersiedelung, ähnlich wie in L.A., sowie die weitgehende Privatisierung der Infrastrukturversorgung. In Buenos Aires finden wir teilweise das Gegenteil vor. Parteipolitik ist von Dissens geprägt. Das Planungssystem ist zum Beispiel schwach, da man sich nicht einigen kann. Aber auch hier haben mächtige Elitennetzwerke das Sagen. Hinzu kommen Korruption und mangelhafte bauliche Qualität. Das Ergebnis ist eine unglaubliche bauliche Dynamik: Wo es sich lohnt, wird abgerissen. An die Stelle zweistöckiger Altbauten kommen Wohnhochhäuser, die bis zu 40 Stockwerke haben. Im Umland entstehen Gated Communities, teilweise Städte mit bis zu 100.000 Einwohnern. Viele Wohnungen stehen leer und dienen nur als Kapitalanlage. Gleichzeitig scheitern Wohnungsbauprogramme – und die Einwohner in der Hauptstadtregion müssen sich mit Landbesetzungen behelfen. In der Stadt Buenos Aires mit ihren knapp 3 Millionen Einwohnern ist etwa ein Fünftel von prekären Wohnbedingungen betroffen.

Bei stadtpolitischen Kontroversen denkt man hierzulande an unbeliebte Großbauprojekte oder das Stichwort Gentrifizierung. Sieht das bei den von Ihnen untersuchten Städte-Beispielen ähnlich aus?
Im Grunde ja. Auch dort häuft sich seit einigen Jahren der Protest gegen Großprojekte, zum Beispiel gegen den Bau von Autobahnen oder Shopping Malls. In Santiago de Chile und Buenos Aires sind außerdem zahlreiche Bürgerinitiativen entstanden, die dagegen kämpfen, dass stadttypische historische Altbauten radikal abgerissen und gegen Hochhauskomplexe ausgetauscht werden. Möglich ist so etwas aufgrund der wenig regulierten bzw. leicht anpassbaren Planungsinstrumente. Das überschneidet sich natürlich auch mit Tendenzen der Gentrifizierung: Während man sich in Vierteln der Mittelschicht dadurch zunächst vor allem in seiner Identität und Lebensqualität eingeschränkt sieht, wenn man etwa statt Sonne im Garten nun eine Hochhauswand vor sich hat, sind diese Restrukturierungstendenzen in ärmeren Stadtteilen ein akutes Verdrängungsrisiko. Wohnungsnot per se ist gerade für Buenos Aires ein zentrales Problem. In meinem Buch diskutiere ich deshalb auch einen Fall um die konfliktgeladene Besetzung eines Parks. Diese Zustände verweisen auch auf die gesellschaftliche Spaltung in südamerikanischen Städten, und die empfundene
Ungerechtigkeit heizt die Proteste weiter an.

Welche Trägergruppen der stadtpolitischen Proteste lassen sich benennen?
Hier treffen im Grunde zahlreiche Trägergruppen mit einem lokalen Interesse aufeinander. Man kann sagen, dass Proteste im Kontext von Stadtentwicklung den Vorteil haben, sehr verschiedene Akteursgruppen zumindest temporär zu verbinden, um gegen einen gemeinsamen Gegner bzw. eine gelebte Not vorgehen zu können: soziale Bewegungen, die um ein Recht auf Wohnen und auf die Stadt kämpfen; Umweltgruppen, die die Natur erhalten wollen oder Denkmalschutzinitiativen, die um die historisch-kulturellen Strukturen kämpfen; Menschenrechtsorganisationen, NGOs oder Graswurzelorganisationen, die versuchen, zu unterstützen; Vertreter politischer Parteien, die mitmischen. Dennoch spürt man in den Konflikten eine starke klassenbezogene Zuordnung der Akteure, die nur in Ausnahmen durchbrochen wird.

In Istanbul wurde 2013 der Gezi-Park von Demonstranten besetzt, später gewaltsam von der Polizei geräumt. Verhält sich die Staatsmacht in den von Ihnen untersuchten Konflikten ähnlich?
Eigentlich schon, wobei ich sehr unterschiedliche Konfliktfälle untersucht habe und jede Auseinandersetzung spezifische Merkmale hat. Bürgerinitiativen mittlerer und oberer Einkommensschichten achten stark darauf, ihren Widerstand auf formelle und von der Öffentlichkeit akzeptierte Strategien zu begrenzen. Aber soziale Bewegungen, teils von Marginalisierten, die um einen strukturellen sozialen Wandel kämpfen und gleiche Rechte einfordern, sind sehr häufig von Kriminalisierungen betroffen. Das reicht von gewaltsamen Räumungen durch die Polizei, wobei in einem Fall sogar drei Zivilisten erschossen wurden, bis zu eher subtilen repressiven Mechanismen. Dies hat gerade in Argentinien nach der Wirtschaftskrise 2001/02 zugenommen. Das ist wirksam und gleichzeitig empört sich die Bevölkerung nicht. Aktivisten werden ruhig gestellt, indem sie oft jahrelang grundlos angeklagt bleiben. Sonst droht Gefängnis und ein politisches Amt können sie dann auch nicht mehr innehaben. Die Regierungen erzeugen außerdem strategisch Brüche zwischen sozialen Bewegungen, um ein vernetztes Agieren zu unterbinden. Dennoch beobachtet man gerade in Santiago eine neue Generation von Aktivisten, die sich nicht mehr so leicht einschüchtern lässt wie ihre Elterngeneration, die Pinochet erlebte, und sich zunehmend themenübergreifend vernetzt.

Frau Hölzl, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Frank.

Corinna Hölzl promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht und lehrt zu Themen der Stadtpolitik und Stadtentwicklung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihr Buch Protestbewegungen und Stadtpolitik: Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires ist jüngst im transcript-Verlag erschienen.

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