Das Kindsein war nicht immer ein so stark geschützter Zeitraum im Leben eines Menschen wie heute. Ein Blick auf Kindheit(en) im Deutschland der Jahrhundertwende.
Deutschland um 1900. Hochindustrialisierung und Urbanisierung prägen den Zeitgeist, gleichzeitig nimmt die städtische Arbeiterbevölkerung zu. Das Bürgertum präsentiert sich zwar selbstbewusst nach außen und prägt die Gesellschaft mit seinen Wertevorstellungen und Familienidealen, trotzdem hat es politisch nur begrenzte Ambitionen. Das Land ist zugleich geprägt vom gesellschaftlichem Wandel, aber auch von Obrigkeitshörigkeit, geführt von einem medial präsenten Kaiser, der den zunehmenden Militarismus in alle Bereiche der Gesellschaft propagiert. Während sich immer differenziertere Privaträume und individualistische Tendenzen auftun, gibt es doch noch strikte Hierarchien und klar gefasste Rollenbilder. Wie hat dieses Spannungsfeld die Kindheit beeinflusst, welche Erwartungen wurden an Kinder gestellt? Darüber sprachen wir mit Teresa Thieme, Kuratorin der Ausstellung „Spielräume“ im Stadtmuseum Jena, und der Historikerin Sandra Leinert.
unique: Wie sind Kinder um 1900 aufgewachsen, wie haben sie gelebt, gespielt, wie sind sie sozialisiert worden?
Thieme: Die Erziehung war sehr streng. Die Eltern sind weniger auf die Bedürfnisse des Kindes eingegangen, das Kind musste auf das eingehen, was vor allem der Vater sagte. Dieser spielt mehr und mehr eine wichtige Rolle innerhalb der Familie als die Autoritätsperson, der sich auch die Mutter unterzuordnen hat. Dass der Vater sogar gesetzlich als Oberhaupt der Familie feststand, hat sich erst im Kaiserreich ergeben. Kinder sollten so gehorchen, wie sie später auch dem Staat gehorchen und in der Gesellschaft auftreten sollten. Durch Disziplin, durch Strenge und vor allem eben durch Selbstdisziplin.
Inwieweit war die Kindererziehung vom Militarismus geprägt, inwieweit von Reformen?
Thieme: Spielzeug ist vermehrt militärisch und beschäftigt sich oft mit der Marine oder mit Soldaten. Man kann davon ausgehen, dass Kinder auch auf diesem „spielerischen“ Wege gewollt frühzeitig militarisiert wurden. Zum anderen waren Kinder ja auch im Alltag eingebunden in den Staat. Bei Aufmärschen waren sie immer präsent, damit war dies für Kinder etwas sehr Normales, Alltägliches. Gleichzeitig bricht das konventionelle Denken auch mehr und mehr auf, immer mehr Wissenschaftler beschäftigen sich mit der Frage, was Kindheit eigentlich ist: Gibt es eine Kinderseele? Die Wissenschaft bemerkt immer mehr die Notwendigkeit, sich in die Kinder hinein zu versetzten und sie eher zu fördern, sie dazu zu bewegen, sich selbst zu entdecken. Das, was bereits in den Kindern schlummert, soll hervorgeholt werden.
Dann ändert sich auch die Sichtweise der Erwachsenengeneration auf die Kinder?
Thieme: Ja, sehr stark. Zunächst nur bei Einzelpersonen. Die Psychologie wird wichtiger und beschäftigt sich zunehmend mit der Kindheit. Es entstehen schon im 19. Jahrhundert die ersten Kinderschutzgesetze. Kinderarbeit wird zum ersten Mal gesetzlich geregelt, Arbeitszeiten werden begrenzt, es wird festgelegt, in welchen Bereichen Kinder arbeiten dürfen. Die Schulpflicht trägt dazu bei, dass die Kinder nicht mehr so viel arbeiten können. Natürlich existieren Kinderschutzgesetze zuerst einmal auf dem Papier. Im Kontext von Fabrikarbeit ist Kontrolle relativ leicht realisierbar, dort gibt es Inspektoren, aber in der Landwirtschaft und Heimindustrie und zu Botengängen werden Kinder weiter heran gezogen. So ist die Dunkelziffer immer noch hoch.
Spielsachen sind ja heute noch ein wichtiger Teil des Kindseins. Waren diese damals auch eine Art Status-Symbol in gehobenen Kreisen, weil man seinem Kind „etwas bieten konnte“?
Leinert: Ja, in bürgerlichen Kreisen. Das fing bei der Kleidung an und ging beim Spielzeug weiter. Das typische Mädchenspielzeug, die Puppe, gab es in den unterschiedlichsten Ausführungen, von der einfachen, selbstgemachten Lumpenpuppe der Arbeiterklasse bis hin zu teuren Ausführungen im gehobenen Bürgertum mit Porzellanköpfen oder aus Wachs. Auch die Kleidung der Puppe spiegelte die soziale Schicht wieder. Es gibt prunkvolle Ausführungen, mit denen das Bürgermädchen kaum spielen durfte, eben weil sie so wertvoll war.
Thieme: Es wurde vermehrt Kinderspielzeug auf den Markt gebracht und gebaut, um auf die Bedürfnisse des wachsenden Mittelstandes einzugehen. Dabei hat sich eine Industrie entwickelt, in der wiederum Kinderarbeit stattfand. Daraus ergibt sich ein gewisser Widerspruch – Kinderarbeit wurde ausgeübt, um anderen Kindern eine Freude zu machen.
Spielzeug hat ja immer auch den Aspekt, dass es Kinder auf das spätere Leben vorbereiten soll. Inwieweit wurde es genutzt, um bestimmte Rollenbilder, Werte und Ideologien zu transportieren?
Leinert: Spielzeug ist gerade zu dieser Zeit auch Erziehungsinstrument und Vorbereitung auf das spätere Leben. Das gilt für die Mädchen, die mit Puppe, Puppenhaus und Spielzeuggeschirr oder kleinen Nähmaschinen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereitet werden sollten und damit gleich im Spiel die Tätigkeiten der eigenen Mutter nachahmen konnten. Gewissenhaftigkeit und Demut waren vor allem für Mädchen wichtig. Beim Jungen war das Spektrum an Spielsachen größer, darunter fallen Gesellschaftsspiele, militärisches Spielzeug oder auch viele Spielsachen, die mit der Aneignung von Wissen verbunden waren.
Thieme: Gehorsam, Ordentlichkeit, Sauberkeit und Pünktlichkeit waren für beide Geschlechter wichtig. Das Kind durfte nicht weinerlich sein. Emotionalität, Trotzigkeit und bockiges Verhalten waren nicht gerne gesehen.
Arbeiterkinder mussten also oft selbst arbeiten oder zumindest mithelfen, hatten also weniger Freizeit. Waren sie trotzdem in ihrem Kindsein freier und weniger durch die Eltern vorgeprägt als Kinder aus bürgerlichen Verhältnissen?
Thieme: Das kann man so sagen. Kinder ärmerer Familien mussten einen Beitrag zum Einkommen der Familie leisten, trotzdem waren sie im Gegensatz zu den Bürgerkindern, die den Großteil des Tages im Haus verbrachten und dieses nur unter Aufsicht verließen, wesentlich freier. Arbeiterkinder hatten zu Hause keinen Platz, um sich zu entfalten, damit hat sich die Kindheit der unteren Bevölkerungsschichten auf der Straße abgespielt. Die Forschung spricht auch von Straßensozialisation, dort wird alles für das spätere Leben erlernt. Man muss sich durchsetzen können. Die Sozialisation erfolgt vor allem im Kontext mit anderen Kindern – ganz im Gegenteil zum Bürgertum, wo wenig Kontakt stattfindet und dieser bestimmt wird durch Erwachsene. Auch bei Arbeiterkindern ergibt sich eine Unterscheidung zwischen Jungen und Mädchen; Jungen waren freier, da Mädchen sich vielfach um ihre jüngeren Geschwister kümmern mussten. Ansonsten waren Kinder aus unteren Schichten definitiv freier im Leben und Erleben, sie schafften sich ihre Spielräume selbst, schlossen sich zu Banden zusammen und waren im Straßenbild präsent.
Wie begegneten sich die Kinder aus den unterschiedlichen Schichten? Begegneten sie sich überhaupt?
Leinert: Kontakt wurde vermieden, um keinen schlechten Einfluss der „Schmuddelkinder“ auf Kinder aus gutem Hause zu ermöglichen. Bürgerliche Eltern hatte große Angst davor, dass sich ihre Kinder schlechte Verhaltensweisen abschauen könnten. Auf dem Land spielten auch Kinder von Großgrundbesitzern teilweise mit den Bauernkindern, es bestand in dieser Hinsicht eine größere Freiheit als in der Stadt.
Waren die Erziehungsmethoden, war die Kindheit in anderen Ländern bereits liberaler?
Thieme: Wir haben uns bei unserer Ausstellung nicht um einen europäischen Vergleich bemüht. Grundsätzlich hat Deutschland aber hinsichtlich einiger Kinderschutzgesetze eine gewisse Vorreiterrolle eingenommen. Sexueller Missbrauch wurde bereits im 19. Jahrhundert unter Strafe gestellt. Die Gehorsamserziehung war in allen deutschsprachigen Ländern vergleichbar.
Was nehmen die heutigen kleinen Besucher aus der Ausstellung mit?
Thieme: Ich hoffe viel. Viele Kinder denken, dass Kindheit um 1900 total furchtbar war. Die meisten Bilder von damals zeigen steife, gestellte Atelieraufnahmen, in denen die Kinder nicht lachen und sich nicht bewegen dürfen. Dabei war Kindheit schon damals aufregend, das erfahren die Kinder hier.
Leinert: Viele der klassischen Kinderbücher, Struwwelpeter, Heidi, Die Biene Maja usw., sind damals entstanden und werden heute noch geliebt. Zum ersten Mal kam Literatur auf, die nicht nur explizit für Kinder geschrieben war, sondern auch die Perspektive von Kindern einnahm, nicht nur belehrend von oben aufgepfropft durch den Erwachsenen.
Und zum Schluss noch eine persönliche Frage – wären Sie gerne noch einmal Kind? Und wenn ja, dann um 1900?
Leinert: Für einen Tag, zum Hineinschnuppern…
Thieme: Zeitreisen würde ich wirklich gerne, kurz gucken und dann wieder zurück. Ich möchte durch die Stadt laufen, unsichtbar, um zu schauen, wie es damals war. Dann ist es natürlich egal, ob ich Kind bin oder erwachsen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Ladyna.
alle Fotos © Städtische Museen Jena
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