Im ständigen Dialog mit dem Bild

Die russische Comic-Künstlerin Olga Lawrentjewa erzählt in ihrer Graphic Novel Surwilo das Leben ihrer Großmutter Walentina Surwilo unter Stalins totalitärer Herrschaft und der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg. Eine Reise durch einen intensiven Comic, im Dialog mit dessen Übersetzerin Ruth Altenhofer.

von Frank Kaltofen


Das Leben von Walentina Surwilo beginnt mit einer glücklichen Kindheit im kommunistischen Russland, im damaligen Leningrad (heute St. Petersburg). Doch was sich auf den anschließenden Seiten entfaltet, ist die Geschichte einer lebenslangen Verlustangst. „Das Unglück ist immer ganz nah“, sagt die Protagonistin Walentina in der Graphic Novel Surwilo. Ihre Enkelin, die russische Comic-Künstlerin Olga Lawrentjewa, hat das Leben ihrer 1925 geborenen Großmutter aufgezeichnet. Surwilo ist nicht bloß eine Biographie, es erzählt vom kollektiven Trauma einer ganzen Generation, einer Unwissenheit, geliebte Menschen jederzeit verlieren zu können. So wie Walentinas Vater, der 1937 den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fällt, verhaftet wird und spurlos verschwindet. Seine Frau und Kinder werden – als ‚Systemfeinde‘ verfemt – nach Baschkortostan östlich der Wolga verbannt: „Meine Kindheit war mit zwölf Jahren vorbei“, erinnert sich Walentina im Comic. Doch ihre Schwester und sie wollen die Hoffnung nicht aufgeben, schreiben Briefe an den Kreml, gerichtet an „Genosse Stalin“ persönlich. „Natürlich wird er antworten, was sonst?“ – der kindlich-trotzige Optimismus bleibt folgenlos; keiner der fragenden Briefe zum Verbleib des Vaters wird je beantwortet. Aber es ist nicht nur der stalinistische Terror, sondern auch das Trauma des Krieges, das Olga Lawrentjewa in Panels gebannt hat. Der in Berlin ansässige Avant-Verlag hat ihren Comic – als die erste auf Deutsch übersetzte Graphic Novel aus Russland überhaupt – auf den hiesigen Markt gebracht. Die österreichische Übersetzerin Ruth Altenhofer hat das rund 300 Seiten starke Werk ins Deutsche übertragen. Ich frage sie nach den Herausforderungen, einen Comic aus dem Russischen zu übersetzen. Dabei spielt natürlich vor allem die Schrift eine Rolle; kyrillische Buchstaben sind nun mal anders als lateinische.

Ruth: „Man ist im ständigen Dialog mit dem Bild. Man sucht nach der idealen Verteilung für den Text. Wenn etwa ein einzelnes Wort ganz in Großbuchstaben steht oder fettgedruckt hervorgehoben wird, muss ich überlegen, wie ich den Satz im Deutschen so konstruiere, dass der Text in der Zeichnung genug Platz hat, aber auch die Betonungen, also Fettdruck oder Großbuchstaben, so verteilt sind, dass sie mit dem Bild zusammen Sinn ergeben.“

Dabei sei nicht jeder Comic gleich schwierig, erklärt mir Ruth. Die deutsche Ausgabe von Surwilo wurde außerdem von der Künstlerin selbst gelettert, diese konnte also selbst in ihre Bilder eingreifen und den übersetzten Text an die entsprechende Position setzen. Das habe erstaunlich gut funktioniert – obwohl Deutsch für Olga Lawrentjewa eine Fremdsprache ist. Andere Herausforderungen beschreibt mir die Übersetzerin so:

Ruth: „Schwierig zu übertragen ist häufig Humor, weil vieles einfach nicht in einer anderen Sprache funktioniert. Das gleiche gilt auch für Wortspiele. Der Comic ist oft kreativer, lotet mehr von den spielerischen Möglichkeiten mit Sprache aus als andere Textarten. Eine besondere Herausforderung beim Comic ist auch, die typischen Soundwords zu übersetzen. Da muss man Acht geben, nichts unbeabsichtigt ins Lächerliche zu ziehen.“

Ich nicke, denn das gilt natürlich besonders in einem Comic, der Diktatur und Krieg behandelt. Als der Krieg ausbricht, ist Walentina als junge Studentin zurück in Leningrad. Sie erlebt dort ab Herbst 1941 die Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht, die rund 28 Monate andauert. Nach dem ersten Blockade-Winter sehen wir im Comic, wie die junge Frau als Sanitäterin in einem Gefängnis Leichen aus einem Holzschuppen trägt, bevor diese aufzutauen beginnen. Sie selbst wirkt in den Zeichnungen zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr lebendig, vollkommen ausgehungert und von ständigem Wachehalten und Fliegeralarmen ausgezehrt: „An Bomben gewöhnt man sich schnell. Kälte kann man ertragen, Dreck, Erschöpfung … Hunger ist das Schlimmste” – dieser rückblickende Satz geht tief. Ich frage Ruth, ob ihr angesichts solcher Schilderungen manchmal beim Übersetzen die Worte gefehlt haben, um das Erlebte angemessen darzustellen:

Ruth: „Ich finde ja, das Faszinierende ist: Auch in Extremsituationen bleibt das, was die Menschen sprechen, oft so erstaunlich normal. Egal, in welcher Zeit es spielt, welche schrecklichen Dinge rundherum passieren – wir Menschen sagen im Grunde dieselben Dinge zueinander. Als Walentina die gefrorenen Leichen aus dem Schuppen holen muss, sagt sie im Original eigentlich das Wort ‚mamotschki‘ – eine Verniedlichungsform von ‚Mama‘, und das dann auch noch im Plural. Wie übersetzt man das in diesem Kontext? Was sagt man in so einer Situation, die wir uns ja in keiner Sprache vorstellen können? Im Deutschen steht an dieser Stelle jetzt ‚O Gott‘ – primär als Ausruf, der zeigt: Sie ist noch da, sie hat noch eine Stimme. Der Rest der Seite ist ohnehin den schrecklichen Bildern gewidmet.“

Nach dem Grauen der Blockade pflegt Walentina zunächst weiterhin Verwundete und heiratet dann direkt nach dem Kriegsende einen Jugendfreund, der seine vielversprechende Militärlaufbahn für sie aufgibt. Denn noch immer ist sie durch den Volksfeind-Status ihres Vaters gebrandmarkt, wird deswegen immer wieder bei der Suche nach Anstellungen abgelehnt – Angaben zum Beruf und Stand der Eltern waren damals Vorschrift. Dann, 1958, mehr als 20 Jahre nach dem Verschwinden ihres Vaters, erhält sie ein offizielles Schreiben: Das Verfahren gegen ihren Vater sei „aufgrund des fehlenden Tatbestands eingestellt. Herr Surwilo ist post mortem rehabilitiert.“ „Post mortem“ – Gewissheit also darüber, dass ihr Vater tot ist. Bereits elf Tage nach seiner Festnahme war er hingerichtet worden. Doch das erfährt Walentina erst Jahrzehnte später, als sie Einsicht nehmen darf in die geheimen Akten aus den 30er Jahren und nach dem Warum sucht – „kein einziger Beweis, die Anklage bestand aus NICHTS“. Zwischen den Papieren findet sie auch die bittenden Briefe, die sie mit ihrer Schwester damals geschrieben hatte.
Surwilo erzählt eindrücklich von der Willkürherrschaft und dem Terror des Stalinregimes, das unter dem von Putin beförderten Geschichtsrevisionismus in Russland seit Jahren eine Renaissance als Vorbild für einen neuen russischen Nationalismus erfährt. Begibt sich die Zeichnerin, die heute in St. Petersburg lebt, damit nicht in Gefahr? Die Übersetzerin verneint, sie habe zumindest nichts von Problemen gehört, die Lawrentjewa bekommen hätte, nachdem das Buch 2019 in Russland erschienen war:

Ruth: „Ich vermute, die Literatur, zumal in diesem Fall die grafische Literatur, spielt im öffentlichen Diskurs eine viel zu geringe Rolle – verglichen etwa mit journalistischen Texten, mit denen man sich schneller einem Risiko aussetzt. Jedenfalls dann, wenn man sich literarisch mit einem historischen Thema befasst; bei anderen russischen Comic-Zeichnerinnen, die etwa zu LGBT-Themen arbeiten, kann das schon anders aussehen. Allerdings ändern sich momentan die Bedingungen in Russland rasant und fast täglich.“

Eine Dissonanz also: In die Vergangenheit hinein könne man leichter Kritik üben als am Hier und Jetzt. Daran liegt es also nicht, dass uns im Deutschen nicht mehr russische Graphic Novels wie die von Olga Lawrentjewa begegnen – woran dann? Als ich Ruth danach frage, nennt sie eine Vielzahl von Gründen:

Ruth: „An sich ist das Medium Graphic Novel ja schon ein absolutes Wunder – dass es Menschen gibt, die sich tatsächlich hinsetzen und ganze Bücher von 200 oder 300 Seiten zeichnen! Zum Teil hat das sicherlich auch mit der wirtschaftlichen und sozialen Absicherung zu tun, für die es beispielsweise in Ländern wie Deutschland oder Frankreich besser etablierte Strukturen gibt, etwa durch Stipendien für Zeichner. Das ist in Russland deutlich weniger ausgeprägt.“

Auch die gesellschaftliche Stellung des Comic-Mediums spiele mit hinein, ergänzt sie:

Ruth: „Schon in der Sowjetunion hatte man starke Ressentiments gegen das Medium Comic. Es zählte nicht nur zur Schundliteratur – wie das ja auch in Deutschland lange der Fall war – sondern es kam noch die anti-westliche Haltung hinzu. Dadurch konnte sich der Comic wohl noch schwerer als anderswo als respektable Kunstform durchsetzen. Und vielleicht kommen dadurch auch immer noch wenige in Russland auf die Idee, ganze Bücher zu zeichnen. Aber sicher gibt es auch noch Comic-Schätze in Russland, die wir einfach noch nicht gehoben haben.“

Denn deutschsprachige Verlage müssen auch erst einmal auf den Comic aufmerksam werden – und ihn als interessant genug für ihre Zielgruppe einschätzen. Da hätte es russische Literatur aus Russland oft nicht leicht, resümiert die Übersetzerin:

Ruth: „Manchmal liegt es daran, dass der Stoff zu fremd sei für das deutsche Publikum; in anderen Fällen ist es aber dann wieder nicht ‚fremd genug‘. Aus Russland erwartet man immer eine ganz eigene Art von Geschichten.“

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