Der beliebte Verweis auf Lyotards „Ende der großen Erzählungen“ verleitet dazu, eine neue große Erzählung – jenseits philosophischer oder politischer Systeme – zu übersehen, die in sämtliche Lebensbereiche vorgedrungen ist und den Kern unseres Selbst betrifft. Gerade weil sie so fest in unseren alltäglichen Gesprächen und Reflexionen über uns selbst und unsere Mitmenschen verankert ist, fällt ihre Deutungshoheit mitunter gar nicht auf.
von Aliena Kempf
Universelle, in Geschichten verpackte Erklärungen – meist religiöser oder philosophischer Natur – hatten einst die Funktion, menschliche (Leid-)Erfahrungen und kulturelle Umbrüche zu erklären. In der komplexen, pluralen Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts – so der Philosoph Jean-François Lyotard –, wird solchen Metaerzählungen jedoch mit großer Skepsis begegnet. Statt über große Erzählungen sprechen wir jetzt lieber über Bubbles oder Identitäten, die jeweils ihre eigenen kleinen Erzählungen haben. Was das Selbst und den Prozess seiner „Selbstwerdung“ betrifft, ist der Diskurs jedoch erstaunlich homogen geworden.
Denn im 20. Jahrhundert gewann eine Wissenschaft an Bedeutung, die vorgab, nicht nur menschliches Verhalten und Erleben, sondern auch lebensgeschichtliches Geworden-Sein zu erklären: die Psychologie. Aus dem Menschen und seiner Unvollkommenheit formte sie den „homo patiens“ – den ewigen Patienten. Dieser leidet unter familiären Verstrickungen, tradierten Rollenbildern und gesellschaftlichen Zwängen, die ihn daran hindern, sich selbst zu verwirklichen. Erst wenn er den Weg der Selbstbefreiung und -verwirklichung mit all seinen Höhen und Tiefen beschreitet, hat er die Chance, das zu werden, was er werden soll: eine eigenständige Persönlichkeit. Am Ende dieses Selbstwerdungsprozesses ist er vollumfänglich Herr und Schöpfer seiner Lage: Er verhält sich autonom und authentisch, ist in gesunder Weise auf sich selbst bezogen und fähig, den Herausforderungen des Lebens auf eine spielerisch-kreative Art und Weise zu begegnen. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zielzustand nicht allzu leicht erreicht werden kann. Die Erzählung würde ein zu frühes Ende nehmen, fiele der Protagonist nach ersten Erfolgen nicht immer wieder auf alte Verhaltensmuster zurück – die sogenannten Regressionen. Damit die psychologisch geskriptete Geschichte funktioniert, muss der Protagonist Patient bleiben oder zumindest immer wieder dazu werden – und davon ist die Gruppe der Berufs- und Hobbytherapeutinnen keinesfalls ausgenommen.
Die Sprache der Selbsttherapie…
„Was fühle ich gerade? Was brauche ich jetzt? Sollte ich mich mehr abgrenzen? Das eben hat mich einfach getriggert – ein altes Trauma von mir kam da hoch. Das muss ich erstmal verarbeiten und versuchen, zu integrieren. Emotionsregulation ist noch ein großes Thema bei mir, und wie ich meine Bedürfnisse transparenter kommunizieren kann…“
Die Gewöhnlichkeit solcher Gedanken zeigt, wie selbstverständlich wir über uns selbst sprechen, als seien wir unsere eigenen Patienten, und uns dabei einer psychologisch inspirierten Sprache bedienen. Nach der Soziologin Eva Illouz sollte uns dieser Umstand allerdings zu denken geben. In Die Errettung der modernen Seele schreibt sie: Die psychologische bzw. therapeutische Sprache habe wie „kein anderes kulturelles Bezugssystem im 20. Jahrhundert“ – „mit Ausnahme des politischen Liberalismus und der marktwirtschaftlichen Sprache wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ – „die Modelle des Selbst“ beeinflusst. Von der Erkundung und Offenbarung unserer Ticks und Macken, Leiden und Unzulänglichkeiten scheint ein eigentümlicher Reiz auszugehen: Unser Leid macht uns besonders, interessant und rätselhaft. Der Austausch über emotionale Leiden und kleine Neurosen schaff t bedeutsamere Beziehungen und ein Gefühl von Verbundenheit, während von der Erzählung der eigenen „Heilungsgeschichte“ die eigentümliche Befriedigung ausgeht, off enbar ein besserer (=emotional gereifter) Mensch geworden zu sein, der nun anderen zu Fortschritten verhelfen kann. Das ist der schmale Grat zwischen „Patientin“ und „Therapeut“ bzw. „Coach“, vereint im beständigen Streben nach Wachstum und Selbstverbesserung.
Der psychologische Blick verleiht unserer Wenigkeit ein hohes Maß an Bedeutsamkeit. In vermeintlich langweiligen Alltäglichkeiten, wie kleinen Malheurs, enthüllen sich unsere unbewussten Wünsche oder die eigentlichen Motive unserer Handlungen. Aber auch unseren nächtlichen Träumen haftet ein eigentümliches Off enbarungspotential an, das es zu analysieren gilt. Unsere Lebensgeschichte, besonders möglicherweise „traumatisch“ erlebte Eindrücke früher Kindertage, birgt tiefe Bedeutungen, die unser gegenwärtiges Erleben mit Sinn anreichern. Auf diese Weise erscheint uns unsere Biographie mit beinahe logischer Notwendigkeit kohärent – also sinnvoll – und keinesfalls belanglos. Bestenfalls wird aus einem frühen Leiden „mein Thema“, das sich wie ein roter Faden durch meine Lebensgeschichte zieht. Falls mich doch einmal der Verdacht erschleicht, meine Kindheit könnte ziemlich unspektakulär und normal gewesen sein – auch für eine traumatische Kindheit ist es niemals zu spät. Jede kann zur Neurotikerin werden, sobald sie in ihrem Empfi nden und Verhalten entsprechende Symptome (oder „Themen“) aufspürt und ihre Kindheit nach deren Ursprung befragt. Und wer sucht, findet bekanntlich.
Illouz beobachtet, dass sich die therapeutische Sprache mittlerweile nicht nur als eine Wissenschaft etabliert hat (der Psychologie), sondern auch in der Populärkultur und im Alltagsleben fest verankert ist. Im Zuge dessen rückte unser individuelles Selbstgefühl – Wie fühle ich mich? Wie nehme ich mich wahr? – ins Zentrum unseres Lebens. Die therapeutische Sprache lieferte gleichzeitig ein neues Sprach- und Wissenssystem, um das eigene Selbstgefühl zu erforschen, auszudrücken – aber auch, es zu problematisieren und durch eine beständige Selbsttherapie zum Positiven zu verändern. Daher handelt es sich nicht nur – und das ist das entscheidende – um eine Sprache, mit der sich der Mensch besser verstehen und seinen Platz in einer immer komplexer werdenden Welt fi nden kann. Die therapeutische Sprache brachte diesen Menschen samt seiner Entwicklungsziele und den damit einhergehenden Ängsten und Leiden erst hervor. Denn Menschen deuten und verhalten sich mit der Zeit nach einem Sprachmodell, sofern es ihnen plausibel erscheint und es ihnen oft genug plausibel gemacht wurde. Mittlerweile glauben wir dem therapeutischen Sprachsystem. Wir glauben z.B., dass man unter einer Depression leiden kann, und können legitime Gründe für das Erkranken angeben. Wir halten die psychologische Sprache für wissenschaftlich fundiertes Wissen, mit dem wir menschliches Geworden-Sein und Werden-Könnens zutreff end erklären können. Die psychologisch-therapeutische Erzählung unserer Lebensgeschichte fußt auf zwei Prämissen: „Wehret den Anfängen“, denn unsere Gegenwart wird von unserer Vergangenheit bestimmt. Und: Befreie dich von den Altlasten und fange ein neues Leben an!
…aus dem Geist des Calvinismus…
Im Grunde führt der Therapie- und Selbsthilfekult eine alte Glaubenstradition auf neue Weise fort. Er verlangt von uns nicht mehr als an die therapeutische Sprache, vor allem aber an uns selbst, zu glauben: „Yes, you can“ – wenn du wirklich willst und daran glaubst, dass du dich ändern kannst, dann wirst du es schaffen.
Für den homo patiens fühlt sich jede psychische Heilung beinahe wie eine zweite Geburt an. Im Calvinismus, einer Form des Protestantismus, hieß Heilung noch Bekehrung. Die Voraussetzung dafür ist die Einsicht des Menschen in seine Sünden, ja sogar, dass sein gesamtes bisheriges Leben ein sündiges war, voller Leid und Verwirrung, weil er die Worte Gottes – die frohe Botschaft – nicht verstehen konnte. Doch durch den gottgegebenen Glauben ist das Verstehen und damit ein Neuanfang möglich. Vollherzig glauben zu können ist wiederum selbst ein Zeichen des Auserwähltseins, denn Rettung wurde nur einigen wenigen versprochen. Diese wenigen müssen aber auch tatsächlich gerettet werden. Da sich der Mensch aber nie sicher sein kann, ob er wirklich zu den Auserwählten gehört, ob er wirklich unerschütterlich glaubt, wird aus dem Glauben-Können ein ständiger Selbstprüfungsprozess. Ein protestantisches Leben besteht daher aus einem beständigen Auf und Ab zwischen Glauben und Zweifeln, zwischen Fortschritten im Glauben und Rückfällen in den Zweifel.
Der homo patiens muss dagegen nicht von seiner Sündhaftigkeit überzeugt sein, sondern von seinen Leiden und verschütteten Traumata. Seine Misere wird nicht auf Adam und Eva, den Eltern der Menschheit, sondern auf die eigenen Eltern zurückgeführt. Er kann sich davon nicht befreien, weil er sich selbst (alias das Wort Gottes) noch nicht verstanden hat. Darum will er verstehen. Er will glauben, dass er es schaffen kann – dass eine Besserung seines Zustands durch die Befreiung aus alten Mustern (alias Sünden) möglich ist. Dafür muss er jedoch nicht an das Wort Gottes, sondern an das Wort der therapeutischen Sprache glauben. Dieses kann ihn auf verschiedenen Wegen erreichen: bei einer Therapie, einem Selbsthilfe-Workshop, bei Gesprächen mit Freunden oder beim Durchstöbern seines Social Media Feeds. Hauptsache, er kann all das in Einem fühlen und begreifen: sein Leid, Hoffnung auf Befreiung und das therapeutische Wort. Dann ist der homo patiens bereit für seine zweite Geburt. Eine Geschichte – egal, ob selbsterzeugt oder gemeinsam erarbeitet – verbindet eine psychologische Kategorie mit seiner Lebensgeschichte und trifft ihn dabei mitten ins Herz. Der „Patient“ hat plötzlich eine neue Sprache für sein Gefühl und dessen Ursache. Sein Leid muss sich nicht mehr in der Sprache der Symptome ausdrücken, weil er es nun verstanden hat. Im Lichte der neuen Erklärung scheint sein verunsichertes Selbst plötzlich wieder Sinn zu ergeben, z.B.: „Es ist ADHS!“, „Es ist soziale Angst!“ oder auch: „Es ist Scham!“ Er fühlt und deutet sich fundamental anders und hat dazu die Gewissheit zurückgewonnen, etwas tun zu können: Er kann über seinen Gefühlshaushalt bestimmen, anstatt ihm ausgeliefert zu sein. Er kann sein Leid noch tiefer fühlen, oder versuchen, sich davon zu befreien. Beides – dass ich mich verändern kann oder auch, warum das so schwer ist – lässt sich durch die jeweils passende Erzählung in (Selbst-)Gesprächen rechtfertigen.
Denn sofern sich die Wende im eigenen (Er-)Leben meistens doch nicht so einfach vollziehen lässt und das Selbst erneut von Leid geplagt wird, kommen auch dem homo patiens protestantische Zweifel auf: Kann ich mich wirklich ändern (alias: Werde ich errettet werden) oder sind meine frühen Prägungen doch zu wirkmächtig (alias: Bin ich zum ewigen Leiden prädestiniert)? Wenn ich keine Fortschritte mache, dann habe ich den Schlüssel zur Linderung meines Leids vielleicht noch nicht gefunden? So entsteht ein merkwürdiger Hybrid aus einer Identifikation mit der Diagnose und ihrer Zurückweisung – so bin ich eben, oder doch nicht? – und einem Schwanken zwischen Verbesserungsoptimismus und -pessimismus: Kann ich mich wirklich befreien (alias mich selbst verwirklichen), wenn ich es nur wirklich will?
…bis zum Rand des inneren Universums
Im Zuge der weltweit wachsenden Bedeutung der Psychologie ist unsere subjektive Wirklichkeit – unsere Gefühle, Wünsche und Erinnerungen – in nie dagewesener Weise interessant und gleichsam problematisch geworden. Wenn wir die Welt da draußen schon nicht begreifen können, wollen wir wenigstens wissen, wie die Welt für uns ist, „wie es sich anfühlt“, „was das mit uns macht (und damals mit uns gemacht hat)” und was wir alles können könnten. Doch dem nicht genug: Mehr als alles andere wollen wir unsere verborgene Innenwelt und unsere unverwechselbare Persönlichkeit erkennen und ausdrücken, zu unserem Wesenskern, unserem „wahren Selbst“, vordringen und dieses nach besten Möglichkeiten verwirklichen. Auf Ebene unserer subjektiven Wirklichkeit, so hoffen wir, kann unsere Sehnsucht nach Wahrheit und Gewissheit gestillt werden. Selbstbeobachtung und -erkundung sind zu einer Lebensaufgabe geworden, die vor allem einen Zweck erfüllt: einem Gefühl von Unsicherheit, Sinnlosigkeit und Passivität Abhilfe zu verschaffen. Der Kontakt zu meinem Selbstgefühl, das tiefe Empfinden meines leidenden und heilenden Selbst, gibt mir das Gefühl, auf dem Weg zu sein und diesen Weg selbst bestimmen zu können. Ich erlange ein tieferes Wirklichkeitsempfinden, wenn nicht ein neues Lebensgefühl.
Der therapeutische Selbstbezug hat nur einen Haken: Wir verdinglichen unser Selbst, während wir versuchen, es mit bedeutungsvollen „Diagnosen“ aufzuladen. Die Diagnose „soziale Angst“ kann dem eigenen Erleben Sinn, eine Perspektive für den Umgang damit und ein Versprechen auf „Heilung“ geben. Eine Identifikation mit dem eigenen Leiden, was für den homo patiens nur natürlich ist, sabotiert jedoch die Selbstwahrnehmung und Handlungsfähigkeit: Zum Sozial-Ängstlichen wird man erst nach der (Selbst-)Diagnose – und die Erzählung einer turbulenten Leidens- und Besserungsgeschichte kann beginnen. Auch erscheint die angenommene Tiefe plötzlich erstaunlich flach, wenn wir dazu angehalten sind, das Selbst mit psychologischen Begriffen, wie Introversion oder Narzissmus dingfest zu machen. Auch hier gilt dasselbe: Zur Introvertierten wird man erst, während zum Narzissten primär der andere für uns wird.
Manchmal hilft es, sich daran zu erinnern, dass die Psychologie und ihre Begriff e nicht den Status einer allgemeingültigen Wahrheit haben, sondern Teil des jeweiligen übergeordneten Glaubenssystems einer Gesellschaft sind. Wie Berger und Luckmann in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit anschaulich beschreiben, kann man glauben, „dass Dämonen sich auf Menschen stürzen, die an einem bestimmten Kalendertag geboren werden“, oder dass die Neurose Menschen befällt, die als Kinder zu viel oder zu wenig von ihren Müttern geliebt wurden. Solche Denkkategorien werden jedoch erst zu unserer subjektiven Realität, wenn wir denken, dass wir wahrhaftig so sind – sei es neurotisch, introvertiert usw.
Vielleicht ist es an der Zeit, die psychologische Befreiungsgeschichte umzuschreiben und bei der Befreiung von der therapeutischen Sprache zu beginnen. Ein großer Teil unseres Leidens würde mit ihr verschwinden. Wir sollten uns eingestehen, dass psychologische Kategorien oder therapeutische Erzählungen unser Selbst letztlich verfehlen, anstatt uns von der Seele zu sprechen. Wir können unser Erleben, Verhalten und unsere lebensgeschichtliche Entwicklung durch die psychologische Sprache nicht verstehen, geschweige denn steuern oder „therapieren“. Und nicht dieser Umstand sollte uns beunruhigen, sondern der umgekehrte: die Omnipräsenz psychologischer Erklärungen für alle Lebenslagen. Anstelle einer neuen Metaerzählung brauchen wir vielmehr eine je eigene Sprache über uns Selbst und unser Gegenüber. Wir sollten uns beharrlich um ein tiefgreifendes, aber dennoch nüchternes Verständnis bemühen und verallgemeinerte Erklärungsmuster – ganz im Sinne Lyotards – mit großer Vorsicht genießen.