„Triumph des Übels“?

Iwan der Schreckliche, Peter der Große und Tschaikowski – in der Geschichte Russlands war Homosexualität immer präsent. Neue Gesetze bedrohen nun die postsowjetischen Freiheiten der russischen LGBT-Community.

von Babs, David & Elizaveta

„Öffentliche Tätigkeiten, die Homo-, Bi- und Transsexualität unter Minderjährigen propagieren, sollen administrativ bestraft werden, mit 5.000 Rubel für einfache Bürger, 50.000 Rubel für Amtspersonen und 200.000 bis 500.000 Rubel für juristische Personen.“ [Anm. d. R.: 5.000 Rubel entsprechen etwa 120 Euro]
Diese Verordnung findet sich im Text eines Gesetzes der Stadt Sankt Petersburg, das am 7. März 2012 erlassen wurde. Es sieht außerdem vor, die Propagierung von Pädophilie mit den gleichen Mitteln zu bestrafen. Was bedeutet die „Propagierung der Homo-, Bi- und Transsexualität“, die jetzt in ganz Russland nach dem Muster des Petersburger Gesetzes verboten werden soll? Zwei Frauen, die Händchen halten – ist das Propagierung? Das Petersburger Stadtgesetz definiert sie als das „Verbreiten von Informationen [über Homo-, Bi- und Transsexualität], die der Gesundheit oder der moralischen und geistigen Entwicklung von Minderjährigen schaden können.“ Dazu zähle auch, „ihnen verzerrte Vorstellungen über die soziale Gleichheit traditioneller und nichttraditioneller ehelicher Verbindungen zu vermitteln.“ Tatsächlich definiert das Gesetz nur wenig: Vieles läßt sich als „Propagierung“ bezeichnen. So wurden bereits im April dieses Jahres zwei Männer in Petersburg festgenommen, weil sie ein Plakat mit der Aufschrift „Homosexualität ist normal“ in den Händen hielten.
Dieses Gesetz bedeutet einen immensen Rückschritt, wenn man sich die Liberalisierung der Gesetzeslage gegenüber Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen (LGBT) seit dem Ende der Sowjetzeit vergegenwärtigt. Die jüngsten Gesetzesänderungen scheinen aber die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung widerzuspiegeln, da etwa zwei Drittel der Russen Homosexualität für ablehnenswert halten. Was wird siegen – die Menschenrechte oder die Meinung des Volkes?
Die orthodoxe Kirche, die seit dem Ende der Sowjetzeit wieder stark an Einfluss gewonnen hat, tritt offensiv gegen Homosexuelle auf. Wsewolod Tschaplin, der Vorsitzende der Abteilung des Heiligen Synods des Moskauer Patriarchats für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, sagte über Homosexualität: „Es darf keinen Triumph des Übels geben! Es darf keinen Triumph des Teufels geben! Denn Christus ist auferstanden!“ Historisch gesehen war die Haltung von Staat, Kirche und Gesellschaft gegenüber Homosexuellen wechselhaft und variierte zwischen Gleichgültigkeit, Repression und Toleranz.

Von Iwan dem Schrecklichen zu Putin
Während Homosexuelle in Westeuropa noch gefoltert und verbrannt wurden, waren sie in Russland selbst auf den Dörfern keine Seltenheit. Es ist bekannt, dass sogar Iwan der Schreckliche homosexuelle Beziehungen führte. Zu dieser Zeit, im 16. Jahrhundert, verteufelte die Kirche den Alkoholismus stärker als gleichgeschlechtliche Beziehungen.
Das erste Gesetz, das Homosexualität unter Strafe stellte, wurde von Peter I. im Jahre 1706 eingeführt, obwohl auch er viele Beziehungen zu Männern pflegte. Dieses Gesetz wurde aus einer schwedischen Militärverordnung übernommen und war somit gewissermaßen ein Import aus dem Westen. Es betraf jedoch nur das Militär (Soldaten wie auch Offiziere) und wurde 1717 dahingehend geändert, dass Homosexualität nicht mehr mit dem Tode, sondern mit Folter bestraft wurde.
Im Jahr 1832 trat in Russland ein neues Strafgesetzbuch in Kraft. Es erkannte Homosexuellen jegliche Rechte ab und sah vier bis fünf Jahre Verbannung nach Sibirien als Strafmaß vor. Homosexualität blieb dennoch Bestandteil des Alltags im Russischen Reich und die schwache Staatsverwaltung konnte keineswegs all seine Gesetze effizient durchsetzen.
So studierte der russische Komponist Pjotr Tschaikowski in einer Rechtsschule, die nur Männer beherbergte. Homosexualität wurde dort offen ausgelebt, was vom damaligen Zar gebilligt wurde. Trotz einer Ehe – die letztlich scheiterte – hatte er homosexuelle Beziehungen, ohne dafür verfolgt zu werden.
Erst 1903 wurde die Bestrafung für Homosexualität offiziell auf drei Monate Gefängnis herabgesetzt. 1917 wurden, nach dem Machtantritt der Bolschewiki, alle Gesetze gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen außer Kraft gesetzt, aber die Situation für Homosexuelle verschlechterte sich wieder allmählich.
Stalin führte 1934 ein neues Gesetz zur Bestrafung von Homosexuellen ein. Hiermit stieg auch die Haftzeit wieder drastisch, auf zehn Jahre. Männer wurden zu Gefängnis- und Lagerstrafen verurteilt, Frauen meistens in Psychiatrien eingewiesen, in denen es üblich war, sie mit Elektroschocks zu „therapieren“.
Bis in die 70er und frühen 80er Jahre, in der „Stagnations-Ära“ Breschnews, änderte sich die Situation kaum. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde in Russland 1993 die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen eingestellt. Was aber nicht thematisiert wurde, war die Rehabilitierung der zahlreichen Opfer. Erst am 1. Januar 1999 wurde Homosexualität aus der Liste der „Geisteskrankheiten“ des russischen Gesundheitsministeriums gestrichen.
Die Bewegungen für die Rechte Homosexueller, die ihre Ursprünge in der Perestroika-Ära hatten, florierten in den 1990er und 2000er Jahren. Zwischen 2004 und 2009 entstanden einige Organisationen, z.B. das russische Netzwerk LaSky, welches sich für die HIV-Prävention bei Schwulen, Lesben und Bisexuellen einsetzt. Erst 2011 wurden Homosexuelle vom russischen Gesundheitsministerium zur „HIV-Risikogruppe“ hinzugefügt. GayRussia, 2005 vom russischen Juristen Nikolaj Alexandrowitsch Alexejew gegründet, wurde schnell zur Hauptinformationsquelle der LGBT in Russland über politische Initiativen, Diskussionen und derzeitige Gesetzeslagen. Alexejew sprach sich für die Idee aus, eine „Moscow Pride-Demonstration“ zu veranstalten, die bisher regelmäßig von der Stadtverwaltung verhindert und als „Satans-Show“ bezeichnet wurde.
In der Nacht des 1. Mai 2006 fand das sogenannte „Gay-Pogrom“ statt: Etwa 150 Rechtsradikale und orthodoxe Aktivisten torpedierten eine Party im Renaissance Event Club. Sie schrien homophobe Parolen und warfen mit Eiern und Flaschen.
Im Herbst 2010 wurde die Moskauer Gay Pride von homophoben Aktivisten gestürmt, die Hasstiraden schrien und Gebete sangen. Im darauf folgenden Frühjahr wurde die Gay Pride verboten – der Ideengeber und Initiator Nikolaj Alexejew wandte sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Noch schwebt dieses Verfahren.

Für hundert Jahre verboten
Diese Ereignisse zeigen, dass Homosexualität in Russland weitestgehend abgelehnt und von einer militanten Minderheit gar mit Gewalt bekämpft wird. Im letzten Jahr folgte ein weiterer immenser Rückschlag, als nun auch die Gesetzgeber wieder zu einer intoleranteren Haltung zurückkehrten: In Sankt Petersburg, aber auch in den Gebieten Rjazan, Kostroma und Astrachan wurden ähnliche Gesetzesvorlagen verabschiedet, die Homosexualität und Pädophilie auf eine Stufe stellen. Was häufig unbeachtet bleibt: Pädophilen werden nun enorme Handlungsspielräume gewährt, da sie nur noch mit verhältnismäßig geringen (Geld-)Strafen bedacht werden. Kurz nach den Verabschiedungen dieser neuen Rechtsnormen trat die russisch-amerikanische Journalistin und LGTB-Aktivistin Masha Gessen im freien Fernsehsender Dozhd auf und bezeichnete diese als „Nazigesetze“ – es fehle nur, dass man LGTB mit rosa Dreiecken kennzeichne.
Da die „Propagierung“ in der Verordnung nicht genau definiert wird, kann man sie auch recht beliebig verstehen. Jegliche friedliche Demonstranten können auf dieser Grundlage verhaftet werden. Jelena Babitsch, Abgeordnete der Petersburger Stadtduma für die sogenannten Liberaldemokraten, eigentlich eine rechtsnationalistische Partei, geht sogar weiter: Auch Kindergärten und Apotheken mit dem Namen „Regenbogen“ würden Homosexualität propagieren, da der Regenbogen das weltweit bekannte Symbol der Homosexuellen ist. Der Verfasser der Petersburger Vorordnung, Vitali Milonow von der Regierungspartei Einiges Russland, will gar auf Grundlage seines Gesetzes die deutsche Band Rammstein für „unverzeihliche und empörende Tätigkeiten lasterhaften Charakters“ während ihres Konzertes im Februar 2012 in der ehemaligen russischen Hauptstadt zur Verantwortung ziehen. Offenbar soll das Gesetz rückwirkend gelten.
Die heutige russische Hauptstadt verbot im Mai 2012 zum wiederholten Mal die Gay Pride und es kam zu mehreren Festnahmen. Anfang Juni verbot ein Moskauer Stadtgericht die Moskauer Gay Pride gar für die nächsten 100 Jahre.
Die politischen Debatten um Tolerierung und Nichttolerierung von Homosexualität nimmt in Russland absurde Züge an. Bedenklich und höchst besorgniserregend ist jedoch, dass damit die LGBT-Community Russlands rechtlich gesehen um 20 Jahre zurückgeworfen wird und sich ihr Alltag erheblich verschlechtert. Wird die LGBT-Community einen neuen Weg finden, ihre Interessen öffentlich zu machen?

 

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