Befriedigende Darstellungen von Sex in der Literatur gibt es nur wenige. Zwischen den Zeilen verlieren die Charaktere ihre Unschuld. Was macht diese Unfähigkeit, ‚es‘ auszudrücken mit uns? Ein Plädoyer dafür, offener über Sex zu schreiben.
von Eva
Geschlechtsverkehr, Sex, poppen, miteinander schlafen, vögeln, Liebe machen, miteinander verkehren, in die Kiste gehen, intim werden: Es gibt viele Ausdrücke dafür, doch niemand scheint es richtig zu benennen. Guten Sex zu haben, ist gar nicht so leicht, gut über Sex zu schreiben, allerdings noch viel schwieriger. In den Klassikern der deutschen Literaturgeschichte findet man, was dieses Thema angeht, häufig Leerstellen – im wahrsten Sinne des Wortes: Die Liebesnacht der beiden Hauptcharaktere Lene und Botho in Fontanes Irrungen, Wirrungen ist zwischen zwei Kapiteln versteckt, bei Kleist wird die Marquise von O nach einem sagenhaften Gedankenstrich plötzlich schwanger, in Max Frisch´ Homo Faber heißt es: „Jedenfalls war es das Mädchen, das in jener Nacht, […] in mein Zimmer kam – “ und Absatz, die Gedankenstriche in Schnitzlers´ Reigen hört man lieber auf zu zählen. Diese Liste ließe sich mit etlichen weiteren Beispielen ergänzen, in denen es nur ein Danach und Davor gibt. Man könnte beinahe von einer Unfähigkeit in der Literaturgeschichte sprechen, über Sex zu schreiben. Wird der Geschlechtsakt nicht vollkommen ausgelassen, flüchten sich die Schreibenden in blumige Metaphern oder Naturbeschreibungen. In Wedekinds Drama Frühlingserwachen liegen die zwei Jugendlichen Wendla und Melchior auf dem Heuboden, ein Gewitter zieht auf, sie küssen sich, es folgen sehr viele Gedankenstriche, das Ergebnis: Wendla ist schwanger. Selbst bei Goethe, dem man nicht nur eine freizügige Lebensweise nachsagt, sondern der in seinem Hauptwerk Faust I mit der Szene Walpurgisnacht eine Orgie schildert, fehlt die entscheidende Sexszene zwischen Faust und Gretchen. Stattdessen fragt dieser sie, ob sie nicht „Brust an Brust und Seel’ in Seele drängen“ wolle. Wer über Sex lesen will, muss zwischen den Zeilen lesen können oder in der Buchhandlung die Erotikabteilung aufsuchen. Ein interessantes Phänomen, da es doch wenige literarische Texte gibt, in denen Geschlechtsverkehr gar keine Rolle spielt, im Gegenteil: meist ist er Teil des Höhepunkts.
Dass es beim Thema Sex sogar Schriftsteller*innen schwerfällt, die richtigen Worte zu finden, mag damit zusammenhängen, dass über Geschlechtsverkehr zu sprechen oder zu schreiben, lange als vulgär oder unschicklich galt – tabuisiert war. Wer dennoch darüber schrieb, wurde, wie Günter Grass, zensiert und skandalisiert. Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt zudem: die Texte sind von einer sehr männlichen Perspektive auf Geschlechtsverkehr gefärbt, zudem stellen viele Sequenzen keinen eindeutig einvernehmlichen Sex oder, denkt man an Ovids Metamorphosen, sogar offensichtliche Vergewaltigungen dar. Wenn man „Frauen schreiben über Sex“ bei Google eingibt, findet man Ergebnisse dazu, wie man am besten eine Frau flachlegen kann. Die moderne Literatur bietet zwar Bücher von feministischen Autorinnen mit Titeln wie „Lust“ (Elfriede Jelinek) oder „Sex 2“ (Sybille Berg), aber die Sexbeschreibungen werden hier mit Machtmissbrauch und Gesellschaftskritik verbunden, sodass man beim Lesen eher verstört ist, anstatt ein alltagstauchliches Sexualvokabular mitzunehmen. Letzteres ist nämlich der Grund, warum es nicht nur unterhaltsam, sondern auch sinnvoll sein kann, sich die missglückten literarischen Versuche, über Sex zu schreiben, vor Augen zu führen: Kann nicht gerade ein präziseres, enttabuisiertes und poetisch sinnliches Schreiben über Sex dazu führen, zum einen eine aufgeklärtere Gesellschaft hervorzubringen, und zum anderen selbst einen offeneren und bestimmteren Umgang mit der eigenen Sexualität zu ermöglichen? Kurz: Hätten wir alle besseren Sex, wenn wir besser darüber schreiben könnten? Einen Versuch wäre es sicher wert, sich beim Schreiben nicht hinter Gedankenstrichen und schwülstigen Metaphern zu verstecken, sondern es zu wagen, die richtigen Worte zu finden.
Zum Abschluss noch ein kleiner Lesetipp, für alle die von missglückten Höhepunkten noch nicht genug haben: „Wer hat den schlechtesten Sex? Eine literarische Stellensuche.“ Der Literaturkritiker Rainer Moritz, der in seiner Jugend literarische Werke nach Sexstellen durchforstete, um aufgeklärt zu werden, hat die schlimmsten Höhepunkte der Literatur zusammengestellt. Sein Favorit: „Er kam wie ein trinkendes Pferd“ (James Salter).
Wer hat den schlechtesten Sex? Eine literarische Stellensuche.
Rainer Moritz
Deutsche Verlags-Anstalt (9. März 2015)
240 Seiten
17,99 Euro
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