Heimat ist dort, wo das Herz ist. Aber wo ist das Herz eigentlich zu Hause? Und kann man Heimat auf mehrere Orte verteilen? Eine Spurensuche.
von Anne
Die Kiste vor mir ist gut gefüllt, bestimmt 300 Fotos liegen darin. Ich greife eins heraus: Es zeigt die Straße zu einem Hafen. Der Himmel ist blau, auf dem Boden liegen einige Schneereste, ein gewöhnlicher Sonnentag im Winter. Die Kiste enthält viele Aufnahmen dieser Art: Schnappschüsse des Alltäglichen, von Orten, an denen ich für einige Zeit gelebt habe. Wenn ich sie betrachte, denke ich an Menschen, denen ich unbedingt mal wieder schreiben müsste. Mir schießen Erinnerungen an Ereignisse in den Kopf, die ich an diesem Ort erlebt habe, und es macht sich ein Gefühl breit, das ich nicht wirklich definieren kann: Ist es nun Fernweh oder Heimweh?
Ein guter Freund von mir sagte einmal, für ihn sei Heimat der Ort, an dem er aufgewachsen ist, dort sei er zu Hause. Wie das Herz einen anderen Ort als Heimat bestimmen soll, verstehe er nicht ganz, schließlich habe man dort seine Wurzeln. Ich kann ihm zustimmen: Der Ort, an dem man aufwächst, hat bei den Meisten einen besonderen Platz im Herzen. Manchmal frage ich mich aber, ob mein Herz nicht bereits an verschiedenen Orten der Welt zu Hause ist.
Dass ich, als typisches „Nesthäkchen“, mit 16 Jahren beschloss, mein elftes Schuljahr in den USA zu verbringen, hat viele überrascht. Ich sehe diese Entscheidung bis heute als eine der besten meines Lebens an. Einmal Feuer gefangen, verbrachte ich dann auch das komplette zweite Jahr meines Bachelor-Studiums im Ausland, in Huelva (Spanien) und Boston (USA). Diese Erfahrungen haben mein Verständnis von Heimat stark verändert.
Natürlich ist jede triviale Alltagshandlung an einem neuen, fremden Ort zunächst ein kleines Abenteuer. Kurz auf meine Ankunft in Boston folgte schon der erste Tag an der Uni. Ich kannte niemanden, der mich auf meinem Weg dorthin begleiten würde. Als Mädchen aus der Kleinstadt nahm ich also meinen Stadt- und U-Bahnplan in die Hand und machte mich auf den geschätzt 30 Minuten langen Weg zur Uni. Glücklicherweise ist Bostons U-Bahnsystem vergleichsweise übersichtlich; trotzdem hatte ich ein gewisses Unruhegefühl im Magen, das erst verschwand, als ich an der richtigen Haltestelle angekommen war. Der tägliche Weg zur Uni wird schnell zur Routine. Das anfängliche Gefühl von Fremdheit weicht dem Alltag und ich beginne, mich heimisch zu fühlen. Es gibt viele Ereignisse dieser Art: der Arztbesuch in Spanien oder die Beantragung einer Arbeitserlaubnis in den USA. Alle „Aufgaben“ lösen zunächst ein Gefühl der Unsicherheit aus. Doch mit der Bewältigung dieser Aufgaben fühle ich mich ein Stück sicherer in meiner neuen Umgebung.
Zwar muss auch ich zugeben, dass während meiner Zeit im Ausland nicht immer alles perfekt war, doch blende ich die unangenehmen Ereignisse meist aus meinen Erinnerungen aus oder sehe sie als nicht mehr so gravierend an. Zeichne ich damit ein geschöntes Bild von meiner „anderen“ Heimat? Würde ich sie andernfalls überhaupt so nennen? Diese Frage habe ich mir oft gestellt und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich sie mir auch stellen müsste, wenn ich von dem Ort spreche, an dem ich aufgewachsen bin. Ob ich beim Betrachten der Fotos nun Heimweh oder Fernweh empfinde? Ganz klar: sowohl als auch. Heimweh, weil ich den Ort und die Menschen vermisse und dahin zurückkehren möchte. Fernweh, denn ich sehne mich danach, noch mehr Neues an diesem Ort zu entdecken.
Jeder Ort, an dem ich verweile, prägt mich auf eine besondere Art und Weise: In Spanien bin ich gelassener geworden, in den USA wurde mir bewusst, dass man nicht immer mit dem Strom schwimmen muss und trotzdem Anerkennung findet. Heimat ist für mich mehr als nur ein Punkt auf der Landkarte, sie ist es ein Zusammenspiel von Umgebung, Menschen und Erfahrungen. Klar, meine Wurzeln liegen dort, wo ich aufgewachsen bin und wo meine Familie lebt. Doch hält mich das nicht davon ab, andere Orte, an denen ich gelebt habe, heimisch zu nennen.
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