Grenzregionen des Schreckens

Timothy Snyder schreibt eine Geschichte der Massenverbrechen Hitlers und Stalins im polnisch-sowjetischen Grenzgebiet.

von David

In einem ukrainischen Dorf im Frühjahr 1933 verhungerte der junge Jósef Sobolewski qualvoll nach tagelangen Halluzinationen über nichtexistente Getreidehalme. Zehn Jahre später und Hunderte Kilometer nordwestlich wurde Ruth Dorfmann in Treblinka kurz nach dem letzten Gespräch ihres Lebens, den sie mit einem Lagerfriseur führte, vergast.
Was verbindet diese beiden Menschenschicksale? Dieser Frage geht der renommierte Historiker Timothy Snyder in seinem neusten Buch nach. Die „Bloodlands“ sind eine Metapher für die Grenzgebiete zwischen Polen und der Sowjetunion, in denen zwischen 1933 und 1945 etwa 14 Millionen Zivilisten durch die Regime Hitlers und Stalins systematisch ermordet wurden. Sie umfassen nach den heutigen Grenzen Polen, die Ukraine, Weißrussland, Litauen, Lettland, Estland und die westlichen Randgebiete Russlands.
Die „Bloodlands“ entstanden 1933, so Snyder, als nach der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft etwa drei Millionen Menschen in der Ukrainischen Sowjetrepublik verhungerten. In den entscheidenden ersten Wochen unterließ die Regierung in Moskau jegliche Hilfeleistung und nahm die Hungersnot bewusst in Kauf. Knapp drei Jahre später brach in der ganzen Sowjetunion eine beispiellose Terrorkampagne aus: In den Jahren 1937 und 1938 wurden knapp 700.000 Sowjetbürger hingerichtet und über eine Million deportiert. Snyder zeigt, wie insbesondere die Ukrainische Teilrepublik und ihre polnische Minderheit überproportional vom Terror betroffen wurden.
Während Stalin an der Peripherie seines Imperiums wütete, festigte Hitler seine Diktatur im Deutschen Reich mit Verhaftungen und Einschüchterungen, jedoch noch ohne Massenmord. Dies änderte sich mit dem Überfall auf Polen, den der Molotov-Ribbentrop-Vertrag ermöglicht hatte. Innerhalb weniger Monate vergewaltigten, vertrieben und ermordeten die deutschen Besatzer zehntausende jüdische wie nichtjüdische Bürger Polens, wobei erstere in Ghettos eingesperrt wurden. Östlich der Molotov-Ribbentrop-Linie deportierten die Sowjets zehntausende polnische Bildungsbürger als potentielle Feinde nach Zentralasien und Sibirien. Noch heute heiß diskutiert wird die Ermordung von über 20.000 polnischen Kriegsgefangenen durch den sowjetischen Geheimdienst, u. a. in den Wäldern um Katyń.
Eine neue Stufe der Gewalt brachte der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Snyder zeigt, wie die Nazis ihre ursprüngliche Pläne der „Endlösung“ in kurzer Zeit radikalisierten: Die geplante Deportation aller europäischen Juden jenseits des Urals nach dem Sieg wich dem systematischen Massenmord im Krieg. Die Einsatzgruppen erschossen bis Ende des Jahres unter Beteiligung lokaler Hilfskräfte über eine Million jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Der Holocaust wurde dann in die Gebiete westlich der Molotov-Ribbentrop-Linie verlagert. Hier bauten die Nazis Vergasungsanlagen in Bełżec, Sobibór, Treblinka und Auschwitz, wo neben polnischen und sowjetischen auch die meisten europäischen Juden ermordet wurden.
Den ursprünglichen „Hungerplan“, der 30 bis 45 Millionen Hungertote anpeilte, setzten die Nazis nicht in diesem Ausmaß um. Trotzdem fielen etwa dreieinhalb Millionen sowjetische Kriegsgefangene sowie über eine Million Leningrader Bürger im Zuge der Leningrader Blockade dem systematisch geplanten Hungertod zum Opfer. Wo die Nazis auch auf Widerstand trafen, reagierten sie mit grausamen Vergeltungsaktionen. Als in Weißrussland sowjetische Partisanen Anschläge gegen deutsche Besatzer und vermeintliche Kollaborateure verübten, vernichteten SS-Einheiten ganze Dörfer und ihre Bewohner. Auch auf die zwei großen Erhebungen in Warschau, nämlich den Aufstand des Warschauer Ghettos im Frühling 1943 und den Warschauer Aufstand unter der Führung der Polnischen Heimatarmee im Sommer 1944, reagierten die Besatzer mit Massakern an der Zivilbevölkerung.
Die Geschichte der „Bloodlands“ endete nicht mit der deutschen Kapitulation. Im Zuge ethnischer Säuberungen wurden nach Kriegsende Deutsche aus Polen und der Tschechoslowakei nach Deutschland, Polen aus den Grenzgebieten der nun erweiterten UdSSR nach Polen und Ukrainer aus Polen in die Sowjetunion vertrieben und deportiert.
Snyder entfaltet in seinem Buch furchterregendes Panorama staatlicher Massengewalt im 20. Jahrhundert, das jedoch auch für ein Laienpublikum verständlich verfasst ist. Die meisten Kapitel sind in sich hervorragend geschrieben. Trotzdem krankt das Werk in vielen Bereichen. Höchst problematisch ist der Begriff „Bloodlands“: Er ist einerseits sensationalistisch, klingt andererseits aber auch wie ein potentieller Titel für einen trashigen Vampirroman.
Zudem reflektiert Snyder das theoretische Konstrukt nicht genug. Das Territorium der „Bloodlands“ war lange Zeit eine Region imperialer Expansion, ein Begegnungsort zwischen Ost- und Westeuropa, eine multiethnische Peripherie multinationaler Imperien, und schließlich im Zuge des Ersten Weltkriegs ein Epizentrum divergierender Nationalismen. Von 1914 bis 1922 waren die späteren „Bloodlands“ bereits „blutbefleckt“, und zwar als Gebiet der Ostfront im Ersten Weltkrieg und als das Gebiet, in dem der Russische Bürgerkrieg die brutalsten Gewaltexzesse brachte. Nicht ausschließlich, aber unter anderem auch in der Ukraine erlernten die Bolschewiki die Ausübung von Terror gegen die Zivilbevölkerung. 1918 waren große Teile dieses Gebiets auch schon von der deutschen Armee besetzt worden. Dies, aber auch die Tatsache, dass die „Bloodlands“ weitestgehend deckungsgleich mit dem jüdischen Ansiedlungsrayon im Zarenreich waren, wird zwar in abgebildeten Karten im Buch auch präsentiert, jedoch nicht weiter diskutiert. Ab 1914 wurden bereits hunderttausende Juden von der zarischen Armee vertrieben und deportiert. Über 100.000 wurden bis 1922 von verschiedenen Kriegs- und Bürgerkriegsparteien ermordet. All dies wird von Snyder kaum kontextualisiert und reflektiert, obwohl dies durchaus lohnenswert gewesen wäre.
Auch die Verortung des stalinistischen Terrors und seiner Ursprünge in den „Bloodlands“ ist diskutabel. Wenn die Massengewalt des Sowjetregimes nicht nur aus der Sicht Moskaus verstanden werden kann, so kann man sie jedoch auch nicht ausschließlich aus der spezifisch ukrainischen Peripherie heraus erklären. Dies verdeutlichen die ebenso fürchterlichen Verheerungen der Kollektivierung und des Großen Terrors in anderen peripheren Gebieten der UdSSR (in Zentralasien und im Kaukasus).
Snyders Buch neigt außerdem zu Redundanzen. Das thematische Schlusskapitel über den Antisemitismus der Nachkriegszeit in der Sowjetunion, in Polen und in der Tschechoslowakei ist zwar hervorragend geschrieben, hat aber konzeptionell kaum etwas in diesem Buch zu suchen. Zugleich bleiben viele Themen außen vor. Die Fragen der massiven und teils eigenständigen Beteiligung der örtlichen Bevölkerung am Holocaust (z. B. in Jedwabne) werden angeschnitten, aber nicht tiefgründig behandelt. Auch die ukrainisch-polnischen Massaker in Wolhynien und Ostgalizien werden in gerade mal drei bis vier Absätzen abgehakt. Aber gerade sie zeigen, wie die Brutalisierung der doppelten Besatzung und der Wissenstransfer über die Organisierung von Massenmorden kleinere politische Gruppierungen beeinflussten, hier also ukrainische nationalistische Freischärler, die sich zuvor als Hilfspolizisten am Holocaust beteiligt hatten.
Dass Snyder auch z. B. den rumänischen Holocaust nicht untersucht, könnte er damit begründen, dass er sich auf Hitlers und Stalins Massenmorde und ihrem Vergleich konzentriert. Seit dem Historikerstreit der 1980er Jahre hat der wissenschaftliche Vergleich von Nationalsozialismus und Stalinismus qualitativ zugelegt. Doch das Problem von „Bloodlands“ ist, dass ein Vergleich, der tiefgründig nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden, Parallelen, Abweichungen und Interaktionen zwischen den beiden Diktaturen fragt, nicht geleistet wird. Snyder beschreibt in einer Parallelmontage die Geschichte der stalinistischen und nationalsozialistischen Massenverbrechen, ohne wirklich zu vergleichen. Nur manchmal zieht er auf sehr ärgerliche und flapsige Art Analogien, etwa zwischen Kolchosen und jüdischen Ghettos. Dies hinterlässt dann mehr den Eindruck einer unreflektierten rhetorischen Gleichsetzung zu literarischen Zwecken als den eines profunden Vergleichs.
„Bloodlands“ ist lediglich die Summe seiner Teile. Das Buch basiert größtenteils auf den Ergebnissen anderer Forscher und nutzt nur wenig neue Quellen, was an und für sich kein Manko wäre, angesichts der konzeptionellen Schwächen jedoch schon eines ist. Nach Snyders überaus originellen und ergiebigen Forschungen zur Erfindung der polnischen, ukrainischen, weißrussischen und litauischen Nation oder seiner Biographie über den ukrainischen Nationalisten Vasyl‘ Vyšyvanyj bzw. Erzherzog Wilhelm von Habsburg-Lothringen ist „Bloodlands“ eine Enttäuschung. Leider.

Timothy Snyder:
Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Aus dem Englischen von
Martin Richter
C.H. Beck 2011
523 Seiten mit 36 Karten
29,95 €

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