Glosse: Wohnen in der Platte

PRO

von LuGr

Das Image von der Platte und dem Wohnen in selbiger ist immer noch ein schlechtes – das jedoch völlig zu Unrecht! Jeder Eingang mit den acht oder mehr Mietparteien bildet einen Querschnitt durch alle Bevölkerungsschichten. Neben Studenten, die wohl insbesondere die für Jenaer Verhältnisse erschwinglichen Mietpreise ansprechen, und Rentnern, die aufgrund mangelnder Flexibilität oder dem fortbestehenden Glauben an die Uniformität sozialistischen Wohnraumes in den äußerst soliden Betonkonstruktionen wohnen bleiben, finden sich in der Platte auch Immigranten, die klein anfangen müssen. Multikulturalität wird im Mikrokosmos Plattenbau also großgeschrieben – genau wie Nachbarschaftshilfe, wenn dem Sonntagsessen noch etwas Salz oder andere Zutaten fehlen.

Freilich muss man sich von versnobten Altbaubewohnern des Damenviertels oder anderer, „stylischerer“ Wohngegenden in Jena immer wieder die gängigen Vorwürfe anhören. Ganz vorn dabei: Die Aussicht sei trostlos! Das kann ich angesichts meines mustergültigen, riesigen 5-Quadratmeter-Balkons jedoch nicht bestätigen. Von dort genieße ich – über einige Grünanlagen, Bäume (und ja, andere Wohnblöcke) hinweg – eine wunderbare Aussicht bis zur Innenstadt und den Jenzig. Und dass es angeblich Raubüberfälle und Vergewaltigungen an jeder Ecke gäbe, entspringt wohl auch nur dem nihilistischen Wunschdenken jener Stadtplaner, die mit den Plattenbauten in Winzerla und Lobeda ein Stück DDR-Architekturgeschichte und somit ein Kulturgut zerstören wollen.

Unter Denkmalschutz stellen muss man die funktionalistischen Wohnblöcke freilich nicht. Ihre extrem solide Bausubstanz hat derart „wohlmeinende“ Maßnahmen im Gegensatz zu den betagten Altbauten der Innenstadt nicht nötig. Doch natürlich ist der kostengünstige Wohnraum in den Trabantenstädten insbesondere Vermietern ein Dorn im Auge. Optisch mögen sie nicht in das sonst so schmucke und moderne Bild Jenas passen – ökonomisch erst recht nicht. Da werden neben ästhetischen Bedenken eine Reihe von Klischees angeführt, die argumentativ nur bedingt funktionieren. Neben dem Totschlagargument, das Leben in der Platte sei anonym und hellhörig (nun gut, das ist wirklich keine neue Erkenntnis), wird häufig auch der mangelnde Komfort kritisiert. Das trifft jedoch einzig auf jene Wohnungen zu, in denen das ungeflieste Bad oder die klapprige Wohnungstür noch nicht saniert wurden.

Mit jedem Tag, den die Blöcke mit ihrem unverwüstlichen Stahlbeton hartnäckig dem Verfall trotzen, nimmt die Zahl der Kritiker ab, sie werden buchstäblich von der Zeit überholt.

CONTRA

von Seba

Es ist nicht vielen Menschen vergönnt, ein trautes Heim mit ruhigem Garten und Stadtrandlage oder ein saniertes Gründerzeithaus ihr Eigen nennen zu können. Aus den unterschiedlichsten Gründen müssen sich nicht wenige mit den Betonschlafburgen in Trabantenstädten arrangieren.

Doch für längst vergangene, städtebauplanerische Sünden kann niemand etwas. Die Absicht, preisgünstigen Wohnraum für jedermann zu schaffen, war sicher gut. In den Neuen Bundesländern können die architektonischen Visionen des einst real existierenden Sozialismus’ mit der heutigen, real existierenden Marktwirtschaft kaum in Einklang gebracht werden. Was gut gemeint war, entwickelt sich bis heute in eine andere Richtung. Die uniformen Neubausiedlungen sind nicht gerade Meisterwerke der abendländischen Baukunst, weder fügen sie sich in die Landschaft ein, noch ist ihre bauliche Qualität hervorragend.

Mehrere Dutzend Mietparteien allein in einem Hauseingang erwecken die unschöne Assoziation überdimensionaler Karnickelställe. Es ist kaum gelungen, dieser Architektur so etwas wie Flair oder etwas Einzigartiges zu geben. Unbestritten ist, dass immer mehr gesellschaftlich-sozial benachteiligte und von Schicksalsschlägen gebeutelte Menschen in diesen Betonklötzen leben. Wer möchte und es sich leisten kann, zieht früher oder später weg. Diejenigen aber, die sich nichts Besseres leisten können oder die Hoffnung auf eine Perspektive aufgegeben haben, bergen ein gewisses Konfliktpotential.

Über die sozialen Brennpunkte geistern teils völlig überzogene, aber leider nicht aus den Fingern gesogene Klischees durch die Medien. Daran sind aber weder die Bewohner, noch die ehemaligen Stadtplaner oder Architekten schuld. Die Ursache für die ausgrenzende und gettoisierende Wirkung der DDR-Betonburgen ist eine nur zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheidende Gesellschaft. Sie ermöglicht Gescheiterten selten eine zweite Chance und räumt auch deren Kindern kaum Perspektiven ein. Die Resignation überträgt sich also auch auf jene, die in diesen sozialen Missstand hineingeboren wurden – wobei sich die Problematik sozialer Ausgrenzung natürlich nicht allein auf Plattenbausiedlungen beschränkt. Die Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen in Neubaugebieten der letzten zwei Dekaden waren notwendig, nichtsdestotrotz waren sie nur temporäre Kosmetik auf dem Gesicht eines wesentlich tiefer liegenden Problems. Probleme lassen sich bekanntermaßen nicht wegretuschieren. Das trifft allerdings auch auf die frisch renovierte Fassade einer Jugendstilvilla zu …


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