Wie sehen afghanische Kinder und Jugendliche ihre Zukunft – und die ihrer kriegsgebeutelten Heimat? Das Afghan Youth Project hat sich dieser Fragen wissenschaftlich angenommen.
„Glimpses of Hope in the Shadow of War. The Afghan Youth Project“ lautet der Originaltitel der Studie, die ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der International Psychoanalytic University Berlin vor Kurzem vorgestellt hat. Sie haben dafür mehr als 200 afghanische Kinder und Jugendliche, vor allem in den nördlichen Provinzen Balkh und Kunduz, befragt: Mädchen und Jungen; sowohl solche, die seit ihrer Kindheit schwere körperliche Arbeit leisten, als auch solche, die bereits das Hochschulstudium aufgenommen haben. Die Co-Autorin der Studie, Aisha-Nusrat Ahmad, spricht im Interview über wesentliche Erkenntnisse aus dem Projekt und die Hoffnungen der jungen Generation Afghanistans.
unique: Was war das wesentliche Ziel des Forschungsprojekts?
Aisha-Nusrat Ahmad: In dem Forschungsprojekt ging es uns insbesondere darum, die Erfahrungen und Wahrnehmung von Jugendlichen, die sowohl in wissenschaftlichen als auch in politischen Debatten unterrepräsentiert sind, zu untersuchen. Vor allem, weil gerade Kinder und Jugendliche in Afghanistan zweidrittel der Bevölkerung ausmachen. In dem Projekt sind wir u.a. diesen Forschungsfragen nachgegangen: Wie nehmen Jugendliche ihre Lebenswelten wahr und wie interpretieren sie diese? Welche Folgen haben die Erfahrungen alltäglicher Gewalt für die Identitätsbildung und die Entstehung von Gesellschaftsbildern von Jugendlichen in Afghanistan? Was bedeuten diese Gewalterfahrungen für Selbstverständnis und Selbstverhältnis der Jugendlichen und wie gehen sie mit ihnen um? Wie prägen diese Erfahrungen ihre Vorstellung von einem künftigen, vielleicht auch unmöglichen, „anderen“ Afghanistan? Inwieweit halten sie sich für befähigt, zu einer gesellschaftlichen und politischen Veränderung im Land beizutragen? Uns war es wichtig, ein dekoloniales Forschungsdesign zu verwenden und immer mit den Kolleg*innen vor Ort das Design sowie die Leitfäden für die Interviews zu entwickeln und nach jeder Feldphase gemeinsam zu überlegen, wie wir das Design weiterentwickeln können.
Wie war das Vorgehen dabei?
Neben narrativen Interviews wurden die Jugendlichen gebeten, lebensweltliche Zeichnungen anzufertigen und Essays zu schreiben, wie sie sich ihr Leben in den nächsten zehn Jahren vorstellen. Insgesamt haben wir in dem Projekt die Stimmen und Eindrücke von 223 Jugendlichen in Afghanistan zusammentragen können.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Studie?
Die Jugendlichen haben in den Interviews und den Essays sehr präzise die aktuelle soziopolitische und ökonomische Situation analysiert und kritisiert. Sie nehmen auch Bezug dazu, welche Auswirkungen sie auf ihr eigenes Leben hat. ‘Besorgt sind die Jugendlichen vor allem über die beständige Gewalt im Land, die Armut und Arbeitslosigkeit, die Korruption und Vetternwirtschaft, sowie über das Bildungssystem. Diese Themen sind natürlich vielfach miteinander verwoben. Jugendliche machen Erfahrungen mit massiver sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Zudem kommen unzählige tägliche Stressfaktoren und weitere Formen alltäglicher Gewalt, von der vor allem Minderheiten sowie Frauen und Mädchen betroffen sind. Gleichzeitig entwickeln die Jugendlichen vor dem Hintergrund dieses sehr fragilen Kontexts und der unsicheren Situation Narrative der Hoffnung und des Begehrens, die ein anderes Afghanistan verbildlichen. Sie entwerfen ein zukünftiges Afghanistan, das gerecht, fair und meritokratisch ist und realistische Chancen ermöglicht, vor allem für die vulnerablen und besonders bedürftigen Mitglieder der Gesellschaft. Einheit und Solidarität werden von nahezu allen unabhängig vom sozioökonomischen Status und Bildungshintergrund, stark betont. Vor allem unter den jungen Frauen lassen sich Narrative der Solidarität immer wieder erkennen, wobei die Solidarität durch gemeinsame Leidenserfahrungen geprägt ist. Hoffnung und Glaube spielen eine zentrale Rolle für die Zukunftsvorstellungen unter den Jugendlichen, da sie Kraft spenden und ihnen helfen, mit der anhaltenden Gewalt im Lande umzugehen.
Welche Erfahrungen haben Sie in der Arbeit mit den Jugendlichen gemacht?
Die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen hat sehr gut funktioniert. Viele der Jugendlichen haben auch in den Essays und Interviews darauf verwiesen, wie sehr sie die Möglichkeit schätzen, ihre Erfahrungen und Meinungen zur aktuellen Situation teilen zu können und dass diese anerkannt und wertgeschätzt werden. Sie sind trotz ihres relativ jungen Alters bemerkenswert gut informiert. Neben dem Elternhaus und der Schule beziehen sie die Informationen durch soziale Medien. Diese sind eine zentrale Informationsquelle vor allem, wenn es um Anschläge oder gewaltvolle Ausschreitungen geht,.
Inwieweit erleben die Jugendlichen die alltägliche Gewalt als “normal“?
Das ist eine sehr spannende Frage. Gewisse Gewalterfahrungen werden als alltäglich wahrgenommen. Als beispielsweise ein Interviewer aufgrund von Schüssen im Hintergrund zusammenzuckte, beruhigte ihn der befragte Jugendliche: „Don’t be scared of that! They just fire but the shelling is in the fighting area The government controls the area at the moment but there are rumors that fighting will start on the 10th day of the new year”. Das zeigt die Normalisierung von Gewalt im Leben der Jugendlichen. Indes sind vor allem für die Jugendlichen die wiederholte gewaltvolle Einnahme von Kunduz durch die Taliban traumatisierend und ihre Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft schwindet mit jedem Mal – Kunduz wurde allein während des Forschungsprojektes dreimal eingenommen.
Wie beeinflusst der Konflikt die Entwicklung der Jugendlichen?
Jugendliche in Afghanistan befinden sich aufgrund des strukturellen Wandels und der seit Jahrzehnten zerstörten und erodierenden Wirtschafts- und Sozialstrukturen in einer besonders prekären Position: zwischen der Bewahrung traditioneller Werte und Biographieverläufen und dem gesellschaftlichen Auftrag, das Land in eine neue Zukunft zu führen, die sich an teilweise auch an westlichen Werten und Entwicklungsmodellen orientiert. Dadurch wird der ambivalente Übergangscharakter der Adoleszenz verstärkt, da nicht nur der Übergang vom Kinder- zum Erwachsenenstatus bewältigt werden muss, sondern auch der von einem traditionellen zu einem – nicht unbedingt „westlich“ zu verstehenden – modernen Lebensentwurf. Politische und soziokulturelle Lagerbildung innerhalb der eigenen Gesellschaft und die mangelnden Bildungs- und Versorgungsstrukturen bedeuten für die Jugendlichen zusätzliche massive Herausforderungen und fordern Aushandlungsgeschick und Ambivalenztoleranz. Dabei brechen die Jugendlichen selten mit dem gesellschaftlichen Narrativ der Demut und des Respekts gegenüber der älteren Generation, selbst wenn sie deren Verschulden an bestimmten Lebenssituationen erkennen. Vor allem zeigt sich, dass die Jugendliche trotz dieser Umstände Hoffnung und Strategien entwickeln, wie sie ihre Zukunftsziele erreichen möchten. Der Antrieb scheint dabei nicht nur der Wunsch nach Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand zu sein. Im Wesentlichen werden diese Wünsche begleitet von dem Narrativ, ein guter Mensch sein zu wollen, der sich durch moralische Integrität, Unbestechlichkeit, Hilfsbereitschaft und Fleiß auszeichnet. Dabei erzählen die Jugendlichen von ihrer Generation als einer , die sich selbst helfen muss. Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft für Altersgenossen, die nicht zur Schule gehen können oder in restriktiven Strukturen aufwachsen, werden ausgedrückt. Es zeichnet sich ab, dass die Jugendlichen ein Gefühl für Privilegien besitzen, die aber nicht im Sinne einer hierarchisierenden sozialen Trennung interpretiert wird.
Lassen sich aus Ihren Ergebnissen Schlüsse ziehen für die hierzulande geführte Diskussion über Afghanistan als „sicheres“ Herkunftsland?
Auch wenn die Studie einen regionalen Fokus im Norden des Landes hatte, lassen die empirischen Daten und Befunde auf der Mikroebene keinen Zweifel daran, dass Afghanistan weit entfernt davon ist, ein Land in Frieden zu sein. Afghanistan als sicheres Herkunftsland zu bezeichnen, geht an der Realität vorbei. Wer die vielfach durch Gewalt, Ungleichheit und Perspektivlosigkeit gekennzeichnete Lebenswirklichkeit von Jugendlichen, die in der Studie abgebildet wurden, ignoriert, versteht weder ihr intensives und konflikthaftes Ringen um eine bessere Zukunft, noch die Hintergründe, Motive und Hoffnungen, die sie zur oft traumatischen Flucht bewegen und das Ankommen im Aufnahmeland prägen.
Vielen Dank für die Eindrücke!
Die Fragen stellte Frank.
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