Geschichten aus der „Klapse“

von Anonym


Ich habe zu viele Geschichten in mir, die machen mir das Leben schwer, hallen Judith Hermanns Worte in mir nach, als ich mit meinem Koffer vor der Klinik ankomme. So ist es jetzt geschehen – 23 Jahre alt und in der Klapse gelandet, habe ich mir auch anders vorgestellt. Zum Glück bin ich in meiner Abwärtsspirale, noch auf dem Linoleumboden meiner Station aufgeschlagen.

Die Privatstation, auf der ich dank der Verbeamtung meines Vaters gelandet bin, ist als einzige der acht Stationen altersübergreifend. Meine erste Irritation mit 50- oder 60-Jährigen über intimste Gefühlen zu sprechen, legte sich schnell, denn wir alle teilen die Erfahrung von zu vielen Brüchen in unseren sehr unterschiedlich langen Leben. Die Patient:innen auf Station unterteilen sich in die blaue und rote Gruppe, die immer zusammen Therapie haben. Die Gruppen trennen die Psychosomatischen, also Patient:innen, die auch körperliche Symptome zeigen, von Nicht-Psychosomatischen. Das sind Einzeltherapie, Gruppentherapie, Kunsttherapie und konzentrative Bewegungstherapie und verschiedene Entspannungs- und Stabilisierungseinheiten. Am Wochenende kann man heimfahren und sogar, hin und wieder, über Nacht bleiben. Die Station ist Tag und Nacht von Pflegekräften im Dienstzimmer besetzt, die immer ansprechbar sind, wenn einem zum Heulen oder sonst einem Gefühlsausbruch zumute ist. Außerdem bekommt man eine Bezugspflegekraft zugeteilt, die über den sechs- bis zwölfwöchigen Aufenthalt für einen verantwortlich ist.

Das Leben auf der Station ist irgendwas zwischen Jugendherberge, Therapie und Klassenfahrt. Das meint neben der Therapie: Deeptalks, Freund:innenschaften, Spiele- und Filmabende mit Snacks, Waldspaziergänge und Lesen. Man verbringt 24/7 mit den Mitpatient:innen in einer Art großen Wohngemeinschaft, in der eben alle Hochs und Tiefs auftreten. Es ist wirklich eine besondere Art, sich kennenzulernen, wenn alle äußeren Umstände wegfallen und man den übrigen Patient:innen seltsam nackt, nur mit der eigenen Lebensgeschichte gegenübertritt. Diese Offenheit ist vor allem möglich, weil für die angesprochenen Themen in Therapie und persönliche Informationen über andere Patient:innen strenge Geheimhaltungspflicht gilt. Fotos machen ist auch nicht erlaubt, wodurch die meisten angenehm wenig am Handy sind. Was man bei der vielfältigen Zusammensetzung der Patient:innen lernt, ist, dass psychische Krankheiten, wie so oft und so wahr betont wird, nach außen kaum sichtbar sind und sich erst im zwischenmenschlichen Miteinander oder auch nur im Selbstbild zeigen. Sie betreffen jede:n jedes Alters. Selbst wenn man mal mit wem aneckt, verbindet alle das erlebte Stigma rund um psychische Krankheiten. Das schafft ein starkes Gemeinschaftsgefühl.

Auch wenn ich den Spruch „naja, wenn man ein Bein gebrochen hat, geht man ja auch ins Krankenhaus“ schon tausendmal um die Ohren gehauen bekommen habe, spüre auch ich bei den Worten „Klinik“, „stationär“, „Medikation“ Befremdung und/oder Zurückhaltung. Es braucht dementsprechend lange Auseinandersetzungen auch in Form von Paartherapie oder Angehörigengesprächen, um Akzeptanz für die Krankheitsbilder auf beiden Seiten zu erhalten. Alle müssen verstehen, dass die Patient:innen vor Ort nicht wie ein kaputtes Auto repariert werden, und dann genauso wie zuvor in die Welt zurückkehren können. Die Klinik ist ein geschützter Raum. Hier finde ich Menschen, mit denen offen über Suizidgedanken, depressionsbedingte Vergesslichkeit, Selbstverletzung oder Trauer gesprochen werden kann und die einen unterstützen möchten. Besonders wertvoll ist dabei auch die Rückmeldung, die man von seinen Mitpatient:innen erhält. Da Selbst- und Fremdbild selten korrelieren, gibt es vor Ort einen guten Raum für eben diesen Abgleich. Selbst wenn das nicht unbedingt immer angenehm ist, bringen einen gerade diese Gespräche weiter. Nach Verlassen der Klinik treffen sich viele Expatient:innen weiter. „Wie Therapie ist es, verstanden zu werden.“

Eine meiner größten Lernerfahrungen vor Ort war es, meinen Leidensdruck als solchen anzuerkennen und Hilfe dafür in Anspruch zu nehmen. Es nahm mir gleich zu Beginn eine gewaltige Last von den Schultern, mich so in meinem Schmerz und meinen Symptomen zeigen zu können, wie ich gerade bin, und nicht mehr funktionieren zu müssen. Mich nicht mehr zum Einkaufen, Freund:innen treffen etc. aufzuraffen, ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern und zu Hause wieder in Tränen auszubrechen. Ich habe mich ernstgenommen gefühlt und konnte mich dadurch auch selbst viel mehr ernstnehmen.

Ich lerne, meine Traumata und alle Reaktionen meines Körpers auf diese von meiner Persönlichkeit zu trennen und mich nicht über sie zu definieren, sie als Symptome zu erkennen, die heilbar sind und mit denen ich leben kann. Ich bin nicht nur Opfer meiner Umstände, sondern auch fähig, mein Verhalten zu verändern und zu wachsen. Dass das nicht immer so leicht anzuerkennen ist und nicht unbedingt so linear verläuft, wie man sich das immer wünscht, finde ich in aller Ehrlichkeit noch immer nicht leicht zu akzeptieren.

Einer der größten Vorteile der stationären Behandlung ist definitiv, dass man in der Behandlung wirklich zum Kern der Problematik vordringen kann. Bei einstündigen Therapiesitzungen ein- oder zweimal die Woche bleibt man oft nur bei den aktuellen Ereignissen und kann selten sehr weit in die Vergangenheit vordringen. Daneben fallen einem durch den Alltag in der Klinik und durch Rückmeldung der Mitpatient:innen Verhaltensweisen auf, die sonst nicht zur Sprache kommen, da man sie selbst nicht bemerkt oder sich dafür zurückzieht. Hier wird man sichtbar. Ebenso wird durch Gruppentherapie und die anderen Angebote in der Gruppe auch ein größerer Fokus auf das Miteinander gelegt, als das in der Einzeltherapie möglich ist, was ich zusätzlich als wertvoll erlebt habe. Dadurch wird die Therapie weniger zu einem individualistischen Selbsttrip, sondern legt einen großen Fokus auf die Kommunikation mit den Mitmenschen.

Eines der größten Argumente, warum man stationär erwägen sollte, ist: Man kann wöchentliche Massagen verschrieben bekommen. In dem Sinne, frei nach einem Mitpatienten: „Nimm dir Zeit und nicht das Leben.“


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