Während die 68er zum Symbol für Protest wurden, sind die „Sechziger“, ihr sowjetisches Pendant, im Westen weitestgehend unbekannt. Dabei legten sie vielleicht den Grundstein für den Anfang vom Ende der Sowjetunion.
von Heide
«Осень, доползём ли, долетим ли до ответа?
Что же будет с родиной и с нами?»
„Herbst, kriechen wir noch, erreichen wir noch die Antwort?
Was wird mit der Heimat und mit uns?“
Die russische Rockgruppe DDT fängt im Lied „Herbst“ («Осень») eine gesamtgesellschaftliche Stimmung der Orientierungslosigkeit ein. Gemessen an der Popularität dieser Rockballade könnte sie als inoffizielle russische Hymne der Jelzin-Jahre gelten. Dabei ist es kein magischer „Wind of Change“, der durch diese Strophen weht. Bei dem rauen Herbstwind der Ratlosigkeit des Jahres 1992 möchte man lieber den Kragen hochkrempeln. Im selben Jahr gaben 66 Prozent der Russen in einer Umfrage an, das Ende der Sowjetunion zu bedauern. Obwohl das an Gorbatschow gerichtete „Danke für die Freiheit“ heute weniger kleinlaut klingt, bleibt er für viele ein „Verräter“. Noch 2013 war die Hälfte der Befragten einer Studie überzeugt, das Ende der Sowjetunion wäre vermeidbar gewesen. Auch Gorbatschow selbst vertritt diese Haltung. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang gern von einem Selbstmord nolens volens. Mit den Worten des Schriftstellers Wiktor Pelewin wurde die späte Sowjetunion „so sehr verbessert, dass sie zu existieren aufhörte“ – falls ein Staat ins Nirvana gelangen könne, sei dies der Fall gewesen.
Die Frage nach dem Anfang vom Ende der Sowjetunion könnte indes lauten: Kam zuerst Krise oder Reform? Zuweilen wird eine Kontinuität zwischen den beiden poststalinistischen Reformperioden und dem Ende der Sowjetunion hergestellt: Ohne Chruschtschows „Tauwetter“ keine Perestroika; ohne Gorbatschows Perestroika kein Ende der Sowjetunion. Letztlich geht es in diesem Narrativ auch um die Frage nach der historischen Rolle der jungen progressiven Elite der Tauwetterperiode, den so genannten „Sechzigern“ (Schestidesjatniki), zu denen sich auch Gorbatschow selbst zählt.
Unter den „Sechzigern“ kann man sich, um eine grobe Vorstellung zu bekommen, eine Art sowjetisches Äquivalent zu den westlichen 68ern vorstellen – auch wenn dieser Vergleich eher vage bleibt. Im engeren Sinne werden sie als Vertreter einer progressiven Richtung unter sowjetischen Intellektuellen der 1960er-Jahre verstanden. Eine eindeutige Abgrenzung zu Dissidenten ist deshalb nicht immer möglich. Oft sind staatskritische Intellektuelle und künstlerisch Schaffende gemeint, die im öffentlichen Leben in Erscheinung traten, wie Schriftsteller, Dichter oder Regisseure. Sie glaubten an eine Verbesserung des Sozialismus und eine Lockerung des Regimes von unten. Dabei waren die „Sechziger“ sehr heterogen und vertraten durchaus unterschiedliche politische Ansichten.
Kinder des Tauwetters
Die „Sechziger“ gelten als die geistigen „Kinder des 20. Parteitags“ der KPdSU, auf dem Nikita Chruschtschow im März 1956 seine Rede „über den Personenkult und seine Folgen“ hielt, besser bekannt als „Geheimrede“. Durch Rehabilitierungen, das Ende der Massenrepression und des Personenkults sowie eine offenere Kulturpolitik wurden in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren von oben neue Gegebenheiten für Dissenz ermöglicht.
Die Zeit der „Sechziger“ wird von Chruschtschows Rede 1956 und der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 gerahmt. Beide Ereignisse wurden von den „Sechzigern“ als einschneidende Wendepunkte empfunden, denn sie symbolisieren den Beginn und das Ende ihrer Hoffnung auf Veränderung. Stalins Tod 1953 – oder zumindest den politischen Bruch mit dem Stalinismus – erlebten die späteren „Sechziger“ in jungen Jahren als prägend. Der russische Soziologe Wiktor M. Woronkow geht davon aus, dass sie 1956 zwischen 16 und 25 Jahren alt waren. Die Alterskohorte wird zum Teil deshalb noch weiter gefasst, weil es sich bei den „Sechzigern“ eher um eine moralische als um eine politische oder soziale Bewegung handelte.
Die „westlichen“ 68er setzten sich bekanntermaßen kritisch mit ihrer Elterngeneration auseinander – in der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit, in Italien mit dem Faschismus. Auch in der Sowjetunion wurden die Einstellungen der Eltern zum Stalinismus hinterfragt. Denn viele „Sechziger“ wuchsen nicht anders auf als die Mehrheit ihrer Altersgenossen: Der „Sechziger“-Dichter Jewgeni Jewtuschenko erinnert sich, wie er während einer Parade auf den Schultern seines Vaters saß und jene Kinder beneidete, die Blumen an Stalin überreichen durften. Bei anderen Vertretern der „Sechziger“ wurden bereits die Eltern politisch verfolgt. So lernte der Schriftsteller Wasili Axionow seine Mutter, die mehrfach im Lager inhaftierte Dichterin Jewgenia Ginsburg, erst als 16-Jähiger kennen. Sie legte ihm ein Medizinstudium nahe. Einerseits würde er am Literaturinstitut ohnehin nicht angenommen werden; andererseits, so perspektivisch für die Zukunft, hätten Ärzte ja ein leichteres Leben im Lager… Wie Wasili Axionow hatten einige der „Sechziger“ vielleicht kaum eine andere Wahl: Das Regime war gegen sie, also waren sie gegen das Regime.
Die enormen sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Dorfleben, zwischen den „Hauptstädten“, Moskau und Leningrad, und der Provinz ließen das „Sechzigertum“ vor allem zu einem Phänomen der beiden Großstädte werden. Besonders Moskau bot eine geeignetere Umgebung für Freidenker: Hier war der Zugang zu Informationen leichter, die Vernetzungsmöglichkeiten vielfältiger; hierhin zog es die kritischen Köpfe und angehenden Künstler aus den restlichen Teilen des Landes.
Helden der „Sechziger“
Dichter und Chansonnier Bulat Okudschawa (1924–1997) – manchmal Georges Brassens, manchmal Bob Dylan der Sowjetunion genannt; Dichter Ewgeni Ewtuschenko (*1933), aber auch Andrei Wosnessenski (1933–2010), Joseph Brodsky (1940–1996), Alexander Galitsch (1918–1977) und Robert Roschdestwenski (1932–1994)Das Ende der Sowjetunion in der Historiographie
An der Frage nach der Vermeidbarkeit des Endes der Sowjetunion spalten sich Historiker in Essentialisten und Revisionisten. Erstere sehen entweder die politische Kultur oder den totalitären Charakter des Regimes als Ursache für den unvermeidbaren „Zusammenbruch“ an. Revisionisten kritisieren diesen Geschichtsdeterminismus. Ihre multikausalen Interpretationen werden dafür bemängelt, dass sie das Ende nur durch äußere Faktoren erklären könnten. Die Diskussion zwischen Essentialisten und Revisionisten lässt sich auf die Frage zuspitzen: Kam zuerst Krise oder Reform?
Bärtige Lyriker
Vielleicht wurde das „Sechzigertum“ aus der Liebe zur Lyrik geboren. Es verwundert daher kaum, dass Liedermacher, Dichter und Schriftsteller, die nicht selten selbst „Sechziger“ waren, zu ihren Symbolen und Helden wurden (siehe Infobox, oben). Die Begeisterung für Ernest Hemingway ließ Bärte unter „Sechzigern“ modisch werden; sie lasen Remarque; auf ausländischen Radiosendern hörten sie westliche Musik. Viele „Sechziger“ lernten Fremdsprachen, um beispielsweise ausländische Zeitungen lesen zu können. Angeregt verfolgten sie die Kontroversen der Zeit, beispielsweise um die Schriftsteller Boris Pasternak und Alexander Solschenizin. Überhaupt waren kulturelle und politische Fragen oft schwer voneinander abzugrenzen. So kursierte die dissidentische Literatur im Samisdat (Selbstherausgabe). Gerade diese informelle Form der Weitergabe von abgetippten oder handschriftlich übertragenen Schriften begünstigte u.a. die Herausbildung des „Sechzigertums“.
Typischerweise wurden und werden die „Sechziger“ weitestgehend isoliert von den 1968er-Bewegungen anderer Länder betrachtet. Selbst der Bezug zum Prager Frühling wird im Rückblick hauptsächlich hinsichtlich der Auswirkungen seiner Niederschlagung auf die Sowjetunion hergestellt. Auf dem Roten Platz demonstrierten im August 1968 nur Wenige gegen die sowjetische Militärintervention in Prag. Die Schriftstellerin und Publizistin Alla Gerber erinnert sich an diese „Mutigen“ und bedauert: „Wie viele andere Sechziger, war auch ich nicht dort.“ Dass sie schnell müde wurden und zu früh gingen, könnte man vielen der „Sechziger“ vorwerfen, resümiert Gerber. Das Eingreifen in Prag, das die Grenzen des Reformwillens der sowjetischen Führung aufzeigte, traf die Ideale der „Sechziger“ im Kern: ihren Glauben an Wandel. Jewgeni Jewtuschenko ließ seine tiefe Enttäuschung zwei Tage nach dem Einmarsch in Prag in ein Gedicht fließen, das erst zwei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Es endet mit der Bitte an die Nachwelt, auf sein Grab zu schreiben: „Russischer Schriftsteller. Zerquetscht von russischen Panzern in Prag.“
Auf das „Tauwetter“ folgte die Regierungszeit Leonid Breschnews, die gemeinhin auf Stagnation reduziert wird. Die 1970er und 1980er Jahre waren durch eine Festigung der Herrschaftsbedingungen und eine weitgehende Entpolitisierung des Alltags geprägt. In gesamtgesellschaftlicher Tendenz begünstigte die gewandelte Sozial- und Konsumpolitik den Rückzug ins Private und das Arrangement mit den gegebenen Verhältnissen. Hatten die „Sechziger“ Anfang der 1960er Jahre noch vergeblich einen Dialog mit der sowjetischen Führung angestrebt, gingen sie Ende des Jahrzehnts zum Monolog über. Viele ihrer bekannten Figuren sahen sich vor allem in den 1970er Jahren zur Emigration gezwungen. Andere wählten die innere Emigration.
Generation Gorbatschows?
Die Perestroika strukturierte die politischen Möglichkeiten neu. Von einigen „Sechzigern“ wurde dieser Wandel mit Enthusiasmus aufgenommen und publizistisch begleitet. Andere kritisierten Gorbatschows Politik. So veröffentlichten Emigranten, unter anderem Axionow, 1987 einen „Brief von zehn“ an Gorbatschow in The New York Times, in dem sie fragten, inwiefern die Reformpolitik tatsächlich von Dauer sein würde Der Überzeugung, die „Sechziger“ hätten zum Ende der Sowjetunion beigetragen, liegt in der Regel die Annahme zugrunde, die Perestroika sei erst aus den Ideen der „Sechziger“ erwachsen. Gorbatschow bezeichnete das Jahr 1968 als eine Wende zum Neostalinismus, durch die sich die „Perestroika um zwanzig Jahre verspätet hatte“.
Im Rückblick sind die Assoziationen mit der Lebensrealität der späten 1980er die sozioökonomischen Folgen der Reformpolitik: leere Theken und ausbleibende Löhne. Bei aller Kritik sprechen die „Sechziger“ Gorbatschow in der Regel den guten Willen nicht ab; jedoch bestreiten einzelne Vertreter der „Sechziger“-Generation, dass Gorbatschow einer von ihnen sei. Natürlich ist hierbei entscheidend, wie weit der Begriff „Sechziger“ gefasst wird. Sind damit nur bekannte Figuren der 1960er Jahre gemeint, oder auch jene, die sich, wie Gorbatschow, deren Ideen nahe fühlten? Aber die Frage nach Gorbatschows Zugehörigkeit zu dieser Generation zeigt vor allem politische Differenzen unter den Sechzigern auf. Bemerkenswert ist deshalb, dass die Gorbatschow-Stiftung 2011 eine Konferenz unter dem Titel ausrichtete: „Die Generation Gorbatschows: Die Sechziger im Leben des Landes“. Ein Teilnehmer bezweifelte diese Bezeichnung, da sich in den 1990er Jahren durchaus auch ein Teil der „Sechziger“ hinter die liberale Politik Boris Jelzins gestellt hatte.
Die „Sechziger“ seien wie eine Krankheit des Systems gewesen, aus dem sie selbst hervorgegangen waren, meint der Schriftsteller und Journalist Alexander Kabakow, der sich selbst eher als „jüngeren Bruder“ der „Sechziger“ versteht. Mit dem Organismus hätten sie auch sich selbst getötet – was ihr „leidvolles Schicksal“ in der postsowjetischen Zeit erkläre, so Kabakow. Tatsächlich erhielt die Bezeichnung „Sechziger“ im Zuge von Neueinschätzungen der jüngeren Geschichte neben der positiven auch eine herablassende Konnotation: Den einstigen Helden wird Naivität vorgeworfen – sofern es denn, abgesehen von geschichtsbewussten Menschenrechtlern und politischen Stiftungen überhaupt noch jemanden interessiert, was aus dieser Generation geworden ist. Es bleiben ihre Lieder, Romane und Filme.
Wenn die „Sechziger“ auch nicht die „Generation Gorbatschows“ sein mögen, so werden ihnen gegenüber ähnlich polarisierende Standpunkte bezogen. Des Einen Triumph über den Totalitarismus ist des Anderen Zerstörung der Sowjetunion. Zumindest in diesem Sinne teilen die „Sechziger“ und Gorbatschow ein ähnliches Schicksal.
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