Visionär der letzten Tage

Vor 100 Jahren wurde der französische Regisseur Jean-Pierre Melville geboren. Seine radikalen, melancholischen Gangsterfilme sind bis heute stilbildend.

von David

Preisfrage: Aus welchem Land kommen die einflussreichsten amerikanischen Gangsterfilme? Natürlich aus Frankreich! US-Mainstream-Regisseur Martin Scorsese, der Hongkonger Action-Spezialist John Woo und der finnische Arthouse-Filmemacher Aki Kaurismäki nennen bei der Frage, wer ihre moderne Interpretation des amerikanischen Gangsterfilms am meisten beeinflusst hat, alle den gleichen Namen: Jean-Pierre Melville.
Melville-Filme – das sind stoische, wortkarge Gangster mit Trenchcoats und Fedoras, die in US-Limousinen fahren und Nachtclubs mit Jazzprogramm frequentieren. Gangster, amerikanischer als alles, was aus den USA kommt – und doch dargestellt von urfranzösischen Stars wie Alain Delon, Jean-Paul Belmondo oder Lino Ventura.
Weltbekannt wurde Melville mit einem Zyklus von fünf Gangsterfilmen, die er ab den frühen 1960er Jahren bis zu seinem Tod 1973 inszenierte – am berühmtesten Le samouraï (in Deutschland: Der eiskalte Engel, 1967) und Le cercle rouge (Vier im roten Kreis, 1970). Diese Filme zeugen von seiner Begeisterung für das klassische Hollywood-Kino, mit der er sich als Teenager in den 1930er Jahren bei langen Kino-Marathons angesteckt hatte – und revolutionierten dabei den Gangsterfilm. Erzählt wird immer das Gleiche: die letzten Wochen und Tage im Leben eines einsamen Gangsters, der noch einen letzten großen, aber zum Scheitern verurteilten Coup drehen will, bevor er sich schließlich selbst dem Tod stellt.
Mit rein filmischen Mitteln hat Melville so konsequent wie nur wenige Regisseure eine komplett eigene Parallelwelt erschaffen, die ausschließlich eigenen Regeln folgt. Nominell spielen diese Filme in Frankreich, aber es ist ein stark verfremdetes, fast dystopisch anmutendes Frankreich: gefilmt in brutalen Schwarz-Weiß-Kontrasten oder in monochromatischen, trist-kalten Blau-, Grau- und Brauntönen; trostlos, regnerisch und fast komplett entvölkert; ohne echte Wohnräume, sondern nur mit kargen Absteigen oder sterilen Luxuswohnungen; mit jedem weiteren Film mehr in stilisierten Studiobauten statt an echten Schauplätzen inszeniert.

Der Einfluss des Samurais
In Melvilles Filmen gibt es keine „normalen“ Menschen, keine funktionierende Gesellschaft, sondern nur Gangster, Polizisten und Nachtclub-Personal – und alle sehen so aus, als wären sie frisch aus der New Yorker Unterwelt gekommen. Als „Meditation über die Einsamkeit“ bezeichnete der Regisseur selbst seine Werke. Melvilles Gangster sind vereinsamte Figuren ohne feste menschliche Bindungen. Sie leben nur nach den ungeschriebenen Ehren- und Schweige-Codes ihres Verbrecherstandes, wohl wissend, dass diese, zu ihrem Verderben, irgendwann von einem Bekannten gebrochen werden.

In der Ära des Kalten Krieges und der Studentenrevolten wirkten Melvilles Filme wie rein ästhetische Statements aus einer anderen Welt. Das machte sie extrem schwierig und zugleich gerade auch für Filmemacher außerhalb Frankreichs sehr attraktiv. Am einflussreichsten und berühmtesten wurde Le samouraï. Hier kommt Melvilles Fähigkeit als purer visueller Erzähler zum Tragen: Wie der Protagonist, der ermattete Profikiller Jef Costello, ist der Film extrem wortkarg, mit wenig Dialogen – in den ersten zehn Minuten fällt sogar kein einziges Wort. Alles, was passiert, erklärt sich ausschließlich über die Handlungen der Figuren. Le samouraï verrät Melvilles Begeisterung für fast meditative Momente der Entschleunigung. Mehr als klassische Action interessiert ihn das „Zwischendrin“: Jef, der regungslos auf dem Bett in seiner kargen Einzimmerwohnung liegt, langsam raucht und dem Gezwitscher seines Kanarienvogels zuhört; Jef, der ruhig einen Schlüssel seiner Dietrichsammlung nach dem anderen in einem fremden Auto ausprobiert; Jef, der einsam durch U-Bahn-Gänge und leere Nebenstraßen schreitet; stoisch, auch im Angesicht seines eigenen Todes gelassen, nur zunehmend (lebens-)müde, ein Mann, der sich offenbar nur von Wasser und Zigaretten ernährt – ein Mysterium.

Résistance und Fatalismus
Melvilles visuelle Sprache ist zeitlos modern und universell – und beeinflusst seit über einem halben Jahrhundert jüngere Regisseure auf der ganzen Welt. Bereits Ende der 1950er Jahre wurde Melville durch sein Bestreben, ästhetisch eigensinnige Filme auch produktionstechnisch unabhängig vom Kino-Mainstream zu drehen, von den jungen Filmemacher-Rebellen der französischen Nouvelle Vague als ihr geistiger Patenonkel gefeiert. Vor allem nach Le samouraï hinterließ seine besondere Filmästhetik auch international ihre Spuren. Das US-amerikanische Gangster-Kino arbeitet sich seit den 1970er Jahren an Melvilles Figurentypen ab: Der einsame, wortkarge und eigenbrötlerische Outlaw, der Filme wie Walter Hills The Driver (1978), Michael Manns Thief (1981) bis hin zu John Wick (2013) bevölkert, ist weniger ein modernisierter Westernheld als ein Wiedergänger Jef Costellos. Im ostasiatischen und vor allem Hongkonger Actionkino findet man ab den späten 1980er Jahren den Einfluss von Melvilles rein visuellem Erzählstil, der den Zuschauer dazu herausfordert, die „Codes“ der Figuren und die „Handlung“ selber visuell zu entschlüsseln. Das Langsame und Meditative des exzentrischen Franzosen fand wiederum seinen Niederschlag im europäischen Arthouse-Kino: Erklärte Melville-Fans wie der Finne Aki Kaurismäki oder der Deutsche Christian Petzold feiern in ihren Filmen die stillen Momente, die Entschleunigung.
So international die Ästhetik, so französisch und autobiografisch ist der Fatalismus und Pessimismus Melvilles: Geboren am 20. Oktober 1917 als Jean-Pierre Grumbach, lernte er in den 1930er Jahren als kinobegeisterter Teenager den amerikanischen Film lieben, doch der Zweite Weltkrieg unterbrach seine cineastischen Karrierepläne: Er schloss sich nach der deutschen Besetzung Frankreichs der Résistance an und nahm den Tarnnamen „Melville“ an. Ein Teil seiner Familie kam im Holocaust um, sein älterer Bruder starb als Untergrundkämpfer. Melvilles Kriegs- und Résistance-Erfahrungen prägten später seine Filme nicht weniger als seine Amerikanophilie. Nominell drehte Melville nur drei Filme über den Zweiten Weltkrieg, de facto handeln aber auch seine Gangsterfilme atmosphärisch von der Erfahrung der Résistance: Leben, Überleben und Sterben außerhalb der „normalen“ Gesellschaft in einer hermetischen, gewalttätigen Parallelwelt mit eigenen Codes; Handeln unter dem Damoklesschwert des Todes; die Unmöglichkeit normaler zwischenmenschlichen Beziehungen – das alles beschreibt nicht nur trefflich die Welt in Melvilles hyperstilisierten Gangsterfilmen, sondern eben auch die ganz reale Erfahrungswelt der Résistance.
Was in seinen Gangsterfilmen unterschwellig spürbar ist, beherrscht voll und ganz sein persönlichstes Werk, L’armée des ombres (Armee im Schatten, 1969), über die letzten Wochen im Leben einiger Résistance-Kämpfer während der deutschen Besatzung Frankreichs. Melvilles eigensinnige Atmosphäre findet hier eine historische Verankerung: „Normale“ Brückenbau-Ingenieure, Elektriker oder Philosophieprofessoren tauchen unter, um über verschlungene Wege Kontakte zu De Gaulles Freien Französischen Streitkräften und zur britischen Armee zu knüpfen, oder in den eigenen Reihen Verräter ausfindig zu machen und zu ermorden. L’armée des ombres endet mit einem Bild des Triumphbogens, erzählt aber von einer tiefen Niederlage: Am Ende erscheint der Widerstand gegen die Nazibesatzer in seinen unmittelbaren Wirkungen als zwecklos, als Akt, der die Résistants zu Mördern und gebrochenen Menschen machte, bevor sie selbst gewaltsam umkamen. Die niederschmetternde Atmosphäre dieses Films und die unheroische Darstellung des Widerstands wurden in Frankreich mit gemischten Stimmen aufgenommen. Gefühle von Trauer und Verlust brachte Melville noch in zwei Gangsterfilmen unter, bevor er, nicht wesentlich älter, aber auf viel trivialere Weise als seine Figuren, 1973 einem Gehirnschlag erlag.


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