Seine Mütze erinnert an diese alte Fernsehserie über den amerikanischen Bürgerkrieg, weil eine Gruppe der amerikanischen Soldaten jene eigenartigen Uniformmützen dort trug. Waren es die Yankees? Ich bin mir nicht sicher…
von sanni
Das Schild dieser Mütze ist irgendwie zu kurz für den Rest seiner Kopfbedeckung. Es sieht aus, als wäre bei ihrer Herstellung der Stoff frühzeitig ausgegangen. Sein Pullover hat irgendwann, im Verlaufe seines unverkennbar langen, intensiven Lebens die Farbe gewechselt. Es könnte einmal blau gewesen sein, aber das ist nicht sicher. Vielleicht auch schwarz. Die Jacke, die er trägt, ist grau-blau; ob sie schon immer diese Farbe hatte, ist schwer zu sagen. Unter all den Flecken, die sie trägt, ist das nicht mehr richtig zu erkennen, auf jeden Fall jedoch ist sie viel zu dünn für diese Temperaturen. Manche dieser Flecken sehen aus wie eingetrocknetes oder notdürftig heraus gewaschenes Blut… Aber vielleicht geht auch meine Phantasie mit mir durch. Die meisten Flecken trägt die Jacke an den Ellbogen und Armen. Ob er in ihr schläft? Wahrscheinlich. Seine Hose war einmal eine hellblaue Jeans. Jetzt ist sie ein braun-grau-dunkles… Irgendwas. Mehr ein Geschmier als eine Hose. Sie ist schon mehr als fadenscheinig und ich habe das Gefühl, dass ich seine Beine durchsehen könnte, wenn ich wollte. Die Taschen der Jeans sind vorn an den Rändern fast schwarz. Hinten völlig ausgebeult und…schmutzig. Sicher auch infolge der Haltung, in der ich ihn jetzt sehe.
Er verbringt in ihr den Großteil des Tages, kniend auf dem Boden, und dabei schleifen die Sohlen seiner einst weißen Schuhe das Hinterteil seiner Jeans und lassen diese langsam verdrecken. Er hockt gegenüber des Cafés, auf dessen Terrasse wir heißen Glühwein unter einem Wärmepilz trinken, auf der Erde, in einer Haltung die mich an mittelalterliche Büßerdarstellungen erinnert: Die Arme nach oben angewinkelt und einen weißen Pappbecher mit blauen Händen nach oben gestreckt. Sein Blick geht starr ins Nirgendwo. So, als würde er den Schnee, auf dem er kniet, und die Flocken, die ihn langsam zudecken, gar nicht bemerken.
Aber diese Mütze. Diese Mütze ist sein Stolz. Kein Fleck ist an ihr und er trägt sie wie eine Krone. Eine Schiller-Kaufhaus Tüte schwebt knapp an seinem Kopf vorbei. Beinahe hätte ihm diese unbedachte Tüte seine Mütze vom Kopf gerissen. Nun sitzt sie schief, fast ein wenig verwegen, auf seinem zotteligen Haar. Langsam stellt er seinen Pappbecher auf den Gehsteig, so als wenn er mit einem Male erwacht sei, und spürt, wie steif ihm die Glieder vom Knien geworden sind. Er ertastet die Mütze und schiebt sie zurück an jene Stelle, die ihm am besten geeignet dafür erscheint. Fast liebevoll ist diese Bewegung. Diese Mütze ist ihm wichtig. Seine Hände sind so rau, dass man deutlich Risse in der Haut erkennen kann. Seine Nagelhaut sticht mit weißer Farbe regelrecht ins Auge und seine Fingernägel beherbergen, jeder einzeln, kleine schwarze Halbmonde.
Die Menschen hasten an ihm vorbei. Ab und an legt jemand eine Münze in den kleinen Pappbecher, der nun wieder in Büßerhaltung durch blaue Finger empor gehalten wird. Bei jeder Münze, sieht er auf und bedankt sich, sagt etwas, doch niemand spricht mit ihm. So verwehen seine Worte fast ungehört und unbeantwortet.
Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, mit Ohrenschützern und kleinem, buntem Bommelschal geht schnurstracks auf ihn zu. Ich habe den Eindruck, er sieht sie absichtlich nicht an. So, als wenn er sie nicht erschrecken will. Seine Augen halten die Straße ganz fest, auf der er kniet, und so steht sie mit ihrem dicken, langen Parka vor ihm, ein kleines Wesen, dass nur aus Ohrenschützern und Mantel zu bestehen scheint, und sieht ihn an, diesen Mann, der da auf Augenhöhe vor ihr kniet. In ihrer Hand eine Ein-Euro-Münze. Eine Frau, sicher ihre Mutter, steht etwas abseits und ruft: „Einfach in den Becher, Schatz!“, aber irgendwie scheint dem kleinen Mädchen das nicht zu gefallen. Sie zögert. So lässt mein amerikanischer Soldat nun doch die Straße frei und sieht auf. Ihre Blicke treffen sich, während sie ihm das Geld hinhält.
Seine Hände lassen den Becher langsam los und er öffnet seine Hand, so dass sie ihm ihre Münze in die offene Handfläche legen kann. Sie strahlt ihn an und ich höre sie sagen: „Für Dich! Ein gesundes neues Jahr!“ Wahrscheinlich hat sie das heute überall, an jedem Stand oder in jedem Geschäft auf dem Weg durch die Stadt mit ihrer Mutter gehört. Sie dreht sich um und rennt zu ihrer Mutter. Er sieht ihr nach und dann auf seine Hand. Langsam lässt er die Münze in seine Windjacke gleiten und kratzt sich Gedanken versunken seinen grauen Bart, der die gesamte untere Hälfte seines Gesichtes verdeckt. Seine Hände umschließen erneut den Becher und nun kann ich es richtig erkennen. Er lächelt. Und dieses Lächeln ist so ansteckend, dass es mich unsagbar traurig macht. Ich bestelle einen Glühwein. Nehme Geld aus meinem Portemonnaie und gehe hinüber zu ihm. „Gesundes Neues Jahr“, höre ich mich sagen und in Gedanken füge ich hinzu: „Verzeih, dass mich ein kleines Mädchen daran erinnern muss, dass Du ein Mensch bist!“
(Foto: Jean Pierre Hintze)
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