Frieden schließen über Umwege – Versöhnungsforschung in Jena

An den Türen hängen Plakate mit Aufschriften wie „Demokratie ohne Grenzen“ und „Black Lives Matter“. Im Regal findet man Bücher über Martin Luther King, Lateinamerika und den
Kommunismus. Auf einem Tisch stehen die Köpfe von Aristoteles und Karl Marx. Bei dem
beschriebenen Ort handelt es sich aber nicht um eine Jenaer Studi-WG, sondern um eine Forschungseinrichtung. Fährt man in den 15. Stock des JenTowers kommt man in die Büroräume des Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). Hier, im Zentrum für Versöhnungsforschung, werden Versöhnungsprozesse weltweit untersucht, um „einen innovativen, auf langfristige Veränderungen ausgerichteten Ansatz vorzulegen, der Kriege und Gewalt in Zukunft unwahrscheinlicher machen soll“, so beschreibt es Prof. Dr. Martin Leiner, der Leiter des Zentrums für Versöhnungsforschung. Unsere unique-Redakteurin hat mit ihm darüber gesprochen, wie Versöhnung herbeigeführt werden kann, inwiefern das Ende des Apartheidssystems dafür ein gutes Beispiel darstellt und warum die Stadt Jena in Sachen Versöhnung noch viel lernen kann.


unique: Was heißt Versöhnung?

Prof. Dr. Martin Leiner: Für Forschungszwecke definieren wir das nicht deutlich anders als im Alltagsgebrauch, nämlich als den Prozess der Wiederanknüpfung von besseren Beziehungen
nach schweren Vorkommnissen wie Völkermord, Krieg, Mord, Massaker, Diktaturen, Folter, Kolonialismus, Sklaverei. Die Beziehungen, die zu versöhnen sind, werden auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: Zwischen Opfern und Tätern, aber auch zwischen der Gesellschaft, die sich mit diesen Opfern oder Tätern identifiziert oder mit ihnen zu identifizieren ist, zwischen Institutionen, aber auch Staaten, die Verantwortung übernehmen müssen. In der Versöhnungsforschung beschäftigten wir uns beispielsweise mit Konflikten um Museumsgegenstände, die in Europa sind und unter unethischen und meist unrechtlichen Bedingungen dahin gekommen sind. Wiedergutmachungen sind ein großes Thema.

Das heißt, Sie untersuchen solche Versöhnungsprozesse, aber Sie versuchen auch selbst aktiv zu werden? Könnte man sagen, dass Sie eine Form von wissenschaftlichem Aktivismus betreiben?

Es ist eher Forschung: Forschung über Versöhnungsprozesse, sogar über problematische oder gescheiterte. Daraus kann man viel lernen. Natürlich habe ich persönlich und die meisten, die hier forschen, ein Interesse, dass Versöhnung auch gelingt. Wir wollen ja gerade die Bedingungen, warum Versöhnung gelingen kann, genauer herausfinden. Ich glaube sehr, wie auch der Philosoph Paul Ricœur, an die Umwege und dass man die Umwege richtig und bis zu Ende gehen muss. Dieser Umweg durch die Forschung stellt etwas zur Verfügung, was vielleicht während der Forschung noch ein bisschen wie Aktivismus aussehen kann. 2020 haben wir die Internationale Gesellschaft für Versöhnungsforschung hier in Jena gegründet. Unser Ziel ist es, dass die Versöhnungsforschung ein wissenschaftlich anerkanntes, neues, transdisziplinäres Feld wird.

Könnten Sie denn kurz zwei Aspekte nennen, die Versöhnung begünstigen?

Das kann man klar sagen. Wir sind im Rahmen eines Forschungsprojekts mit Israelis und Palästinensern in Konzentrationslager gefahren, nach Auschwitz und Buchenwald. Dabei hatten wir verschiedene Settings: Wir waren einmal mit gemischten Gruppen, also Israelis und Palästinensern (und Deutschen) da, und mit Palästinensern und Deutschen allein. Letzteres hatte einen deutlich tieferen Effekt. Waren die Israelis dabei, wurde nur über Politik gestritten. Aber als die Palästinenser allein vor Ort waren und in Führungen gesagt wurde, „ja das war wirklich so”. Deutsche gesagt haben, „das ist schlimm, was da von den Deutschen gegenüber den Juden ausgegangen ist”. Das hatte viel intensivere Effekte auf die Palästinenser. Also: Es ist nicht immer gut, Leute zusammenzubringen, manchmal ist es auch gut, sie allein Erfahrungen machen zu lassen, damit sie sich nicht manipuliert fühlen, oder unter Druck gesetzt. Damit sie in die Diskussionsebene gehen. Ein weiterer Aspekt lässt sich erkennen, wenn man Versöhnungsprozesse vergleicht: Es ist oft schwierig, wenn der Versöhnungsprozess nur von staatlichen Organen getragen wird, aber keine Zivilgesellschaft dabei ist und auch andersherum. Es funktioniert viel besser, wenn beide zusammenarbeiten.

Können Sie einige Beispiele nennen, wie staatliche oder zivilgesellschaftliche Maßnahmen zur Versöhnung aussehen können?

Wir haben eine Reihe von ungefähr 20 Praktiken, die für Versöhnung angesetzt werden können. Sie müssen nicht als Versöhnungsprojekte laufen, aber sie können. Wie beispielsweise die Jugendaustauschprogramme im Rahmen der deutsch-französischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann gibt es Projekte, die mehr eine Art von Bekundung von Seiten der Tätergesellschaft sind. Dass man versuchen will, auch wenn man das nicht kann, etwas wieder gut zu machen, wie die Organisation Aktion Sühnezeichen. Sozialarbeit zu machen, Dinge zu reparieren, wieder aufzubauen. Das hat oft sehr gute Effekte, wird oft sehr gut angenommen, wenn das ohne irgendwelche größeren Aspirationen und Ansprüche an die Opfer ist. Dann gibt es offene Entschuldigungen von Politikern, die mehr oder wenig gut angenommen werden. Außerdem gemeinsames Trauern, Reparationszahlungen, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Da wird aufgedeckt, was passiert ist, wie zum Beispiel nach der Apartheid. Dann gibt es noch wirtschaftliche Maßnahmen, Versuche, das Niveau anzugleichen, beispielsweise durch Kredite, Integration in größere Projekte wie die EU, Schulbuchreformen; das heißt, man geht die Schulbücher durch. Schaut, wie wird das andere Land dargestellt und versucht dann auch aus dessen Perspektive die Geschichte zu erzählen.

Auf der Website des Zentrums werden drei Beispiele für Versöhnungsprozesse genannt: die deutsche Versöhnungspolitik seit 1945 mit Ländern wie Frankreich, Israel, Polen usw., die Überwindung des Apartheidsystems in Südafrika seit 1990 und die Politik der nationalen Versöhnung in Ruanda seit 1994. Können Sie anhand eines der Beispiele in Ansätzen skizzieren, was Sie hier untersucht haben?

Das sind Fälle, von denen wir denken, dass da einiges gelungen ist, was wichtig ist, zu studieren. Versöhnungsprozesse sind fast nie völlig gescheitert, sie kommen aber meist nur zu einem bestimmten Punkt. Die Beispiele sind sehr unterschiedlich, aber man ist in allen Fällen sehr weit gekommen. In Südafrika gab es diesen, für viele überraschenden Aufbruch, man macht Versöhnungspolitik. Eine Demokratie, bei der auch die Schwarzen wählen können. Die Apartheid leitende Partei, die National Party, hat die Macht dann abgegeben. Inzwischen spielt sie praktisch keine Rolle mehr. Das ist schonmal etwas Außergewöhnliches, weil das in der Politik nicht so häufig geschieht. Oft retten sich die Täter in Selbstgerechtigkeit oder ins Ausland oder in weitere Repressionen. Das hat natürlich kritische Seiten, dass manche Leute Verbrechen begangen haben und dafür nicht belangt wurden.
Dann finde ich interessant, dass man mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission ein Instrument geschaffen hat, das die Gesellschaft verändert hat. Nach den Umfragen hat sich die Einstellung der weißen Bevölkerung zur Apartheidszeit grundlegend gewandelt. Die hätten nie gedacht, dass ihre Regierung zum Beispiel Bomben explodieren lässt und nachher behauptet, die Schwarzen wären es gewesen. Das führte zu einer Veränderung des Landes und zu einer Demaskierung des Apartheidregimes mit den ganzen Folterungen. Wahrheit kann eine verändernde Kraft sein, das ist spannend daran.

Wie kann man sich das vorstellen, wie sieht ein Versöhnungsforschungsprojekt von Ihnen aus?

Man ist oft konfrontiert mit Sachen, die mit der Gewalt, die den Versöhnungsprozessen vorausgeht, zusammenhängen. Wenn man dann vor Ort ist, bekommt man das auch manchmal mit. In Kolumbien zum Beispiel geht die Gewalt nach dem Friedensschluss noch weiter. Leute, die ich getroffen habe, dass die dann nicht mehr leben und ermordet wurden, solche Sachen. Das verändert einen schon ziemlich. Dass man denkt: Wie schlimm, wie schade, wie unnötig. Ich denke aber, es ist unbedingt wichtig, vor Ort zu sein. Sonst redet man aus Büchern und versteht nicht, was da los ist. Wir arbeiten deshalb viel mit Leuten zusammen, die in der Praxis stehen, um von ihnen zu lernen.

Was meint „Leute, die in der Praxis stehen”?

Leute, die selbst Versöhnungsforschung machen, die Opfer sind oder Täter. Leute, die das genau beschreiben können, was da abläuft. Ich denke, dass die Wahrheit immer konkret ist und dass es ganz wichtig ist, aus solchen Abstraktionen herauszukommen. Hegels Philosophie ist da schon ein Vorbild. Er nimmt Versöhnung sehr wichtig. Sagt, dass man diese nicht außerhalb halten kann, nicht in eine ätherische Ebene abgleiten sollte. Warum wollen sich Leute versöhnen? Wahrscheinlich, weil sie als Opfer leiden unter dem Unrecht, was ihnen geschehen ist und unter den Gefühlen, die das auslöst. Sie wollen außerdem ein Stück weit Recht erfahren und ins Recht gesetzt werden.

Woran arbeiten Sie denn gerade?

Wir haben gerade am 27. Oktober die Martin-Buber-Forschungsstelle eröffnet. Dazu haben wir viel Geld bekommen für ein 24-Jahresprojekt, um den ganzen Briefwechsel von Martin Buber herauszugeben. Warum? Weil wir denken, dass die Philosophie sehr wichtig ist für die Versöhnungsforschung. Martin Buber hat durch seine Ich-Du-Philosophie einen wichtigen Baustein für ein Versöhnungsdenken entwickelt. Die Forschungsstelle wird vor allem über vier Versöhnungsprozesse arbeiten: Zwischen Deutschen und Juden, zwischen Israelis und Palästinensern, über den Kalten Krieg und den interreligiösen Dialog.

Setzen Sie sich auch mit dem Krieg in der Ukraine auseinander?

Noch nicht so sehr viel. Ich habe ein paar Vorträge dazu gehalten und wir haben auch Forscher aus der Ukraine in unserem Zentrum und gute Kontakte zu russischen Forschern, die jetzt ein bisschen abgerissen sind, aber nach wie vor bestehen. Eine meiner Thesen ist, dass, wenn man Versöhnungspolitik mit Russland in den 90er Jahren ganz anders angegangen wäre, man gar nicht in dieses Desaster gekommen wäre.

Inwiefern?

Es gab den Impuls von Gorbatschow, ein gemeinsames Haus Europa zu bauen und irgendwie hat man dann mehr daran gedacht, im Westen die NATO immer mehr nach Osten zu erweitern. Russland wurde einbezogen, aber nur ein bisschen und nicht so richtig, genauso mit der EU. Man hat eben nicht den beständigen Ansatz gehabt, Russland gehört zu Europa und wir integrieren es. Natürlich gab es in Russland auch Widerstände dagegen, man hat auch die Aufarbeitung des Stalinismus und des sowjetischen Imperialismus nicht richtig gemacht, aber ein bisschen begonnen. Es gab in der Tat Phasen, in denen eine viel größere Offenheit zu einem gemeinsameren Haus Europa bestand als jetzt.

Hat Ihre Forschung auch einen Bezug zu Versöhnungsprozessen in Jena? Inwiefern finden hier Versöhnungsprozesse statt?

Naja, vor dem Universitätsgebäude steht, neben anderen Professoren, immer noch die Büste von dem Philosophen Jakob Friedrich Fries. Wenn man seine Schriften liest, merkt man, dass war ein klarer Antisemit. Der hat in Über die Gefährdung des deutschen Wohlstandes und Charakters durch die Juden unter anderem die „Ausrottung des Judentums“ gefordert und von der „Judenschaft als Völkerkrankheit“ geschrieben. Wenn da eine jüdische Person durch Jena läuft, wie kann sie denken, dass eine ehrliche Versöhnung stattgefunden hat. Vor einem Jahr wurde im Stadtrat mal darüber gesprochen, aber das Thema wurde dann nicht weiter behandelt. Solche Statuen gehören ins Museum. Wir wollen wegen der Fries Büste einen offenen Brief an die Stadt schreiben. (Anm. d. Redaktion: Der Brief wurde am 9. November anlässlich der Novemberprogrome abgeschickt.) Ich finde, Jena ist ein Entwicklungsland der Versöhnung und Aufarbeitung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Eva Haußen.


Prof. Dr. Martin Leiner ist seit 2002 Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der FSU Jena. 2013 gründete er das Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS), 2018 die Academic Alliance for Reconciliation Studies in the Middle East and North Africa (AARMENA), 2020 die International Association for Reconciliation Studies (IARS) und am 27.10.2022 die Martin-Buber-Forschungsstelle an der FSU Jena.

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