Stimmen aus Übersee

(Foto: Alexandre Roschewitz)
(Foto: Alexandre Roschewitz)

Der französische Präsidentschaftswahlkampf steht kurz vor seinem Höhepunkt. Sein Ausgang wird auch durch das Votum der Übersee-Franzosen mitbestimmt. Ein Blick über den europäischen Tellerrand.

von Annegret

An diesem Sonntag, dem 7. Mai 2017, ist es soweit: Dann findet die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen statt und es klärt sich, wer das nächste Staatsoberhaupt der V. Französischen Republik sein wird. Eine Wahl, der nicht nur Frankreich, sondern speziell auch Europa mit großer Spannung entgegenblickt; insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Kandidatin des rechtsextremen Front National (FN), Marine Le Pen, in der Stichwahl um das höchste Staatsamt steht. Dort trifft sie auf den unabhängigen Kandidaten und Gründer der Bewegung „En Marche!“, Emmanuel Macron.
Während der Blick vor allem auf Kontinentalfrankreich gerichtet ist, blieben die französischen Überseegebiete vom Wahlkampf der Kandidaten allerdings nicht ausgeschlossen. Als ein Muss beschrieb die französische Tageszeitung La Croix die Besuche der Präsidentschaftskandidaten in den jeweiligen Gebieten. Denn mit insgesamt 1,6 Millionen potentiellen Wählern, die vier bis fünf Prozent der gesamten französischen Wählerschaft ausmachen, bilden sie eine Größe, die nicht unterschätzt werden sollte. „Ihre Ergebnisse können die Wahl bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen beeinflussen“, so Stephan Martens, Professor für Deutschlandstudien an der Universität Cergy-Pontoise und ehemaliger Direktor der Akademie von Guadeloupe. Nur knapp 600.000 Stimmen trennten beim ersten Wahlgang am 23. April den Drittplatzierten François Fillon von der Zweitplatzierten Marine Le Pen.
Hinzu kommt eine strategische Bedeutung und Herausforderung, die eng mit dem Stimmenpotential verknüpft ist: Allgemein besteht in den Überseegebieten nur wenig Interesse an den Präsidentschaftswahlen. Dies drückte sich auch in der geringen Wahlbeteiligung bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen aus, die im Vergleich zu 2012 teilweise deutlich geringer war. Während für ganz Frankreich eine Wahlbeteiligung von 77,8 Prozent verzeichnet wurde, erreichten die meisten Überseegebiete nicht einmal die 50-Prozent-Marke und lagen insgesamt bei nur 46 Prozent. „Die Überseegebiete sind eine wirkliche Herausforderung hinsichtlich der Wählermobilisierung – im Rahmen einer Abstimmung, bei der es in der zweiten Runde auf nur einige hunderttausend Stimmen ankommt“, beschreibt es der Politikwissenschaftler Damien Deschamps von der Universität La Réunion. In der Hoffnung auf möglichst viele Stimmen wurden nicht nur viele von ihnen in den Wahlkampf-Terminkalender der fünf aussichtsreichsten Kandidaten eingebunden, sondern auch spezielle Punkte und Versprechen in das Wahlprogramm aufgenommen. Dabei widmete der FN diesem Teil der Französischen Republik sogar ein eigenes Programm von 20 Seiten.

„Die Berücksichtigung des Analphabetismus und die Arbeitslosigkeit sind wichtige Themen in den französischen Überseegebieten.“ (Stephan Martens)

Obwohl diese Gebiete Bestandteil der Französischen Republik sind – wenn auch teilweise mit einem sehr unterschiedlichen rechtlichen Status – so unterscheiden sie sich nicht nur durch ihre geografische Lage und ihren historischen Hintergrund von ihrem europäischen Mutterland. „Die materielle und soziale Situation in den Übersee-Departements ist miserabel“, erklärt Deschamps. „Ein erheblicher Teil der Bevölkerung leidet an Unterernährung, die Kindersterblichkeit ist genauso hoch wie die der ärmsten Länder, Schulbildung ist noch ein Privileg.“ Zwar habe es seit ihrer Departementalisation ein beachtliches Aufholen im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftsbereich gegeben, erläutert er weiter, „allerdings tragen die Übersee-Departements immer noch die Folgen ihrer jüngsten Kolonialvergangenheit“. Eine soziale und wirtschaftliche Ungleichheit gegenüber Kontinentalfrankreich lässt sich aber auch generell für die Überseegebiete ausmachen, weshalb gerade Maßnahmen in Bereichen, in denen ein besonders großes Gefälle besteht, im Programm der Kandidaten aufgegriffen wurden, etwa zur Verringerung der Arbeitslosigkeit oder Verbesserungen im Bildungssystem.
Diese Ungleichheit könnte auch ein Grund für die rechtspopulistischen Tendenzen sein, die ebenfalls in den Überseegebieten zu beobachten sind. In Guadeloupe beispielsweise hätten beträchtliche und sukzessive Immigrationswellen aus Haiti und der Dominikanischen Republik zu einer gewissen Abschottung und Fremdenangst beigetragen, wie Martens erklärt. Seinen deutlichsten – wenn auch überraschendsten – Ausdruck fanden diese Tendenzen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen: Insgesamt fast 22 Prozent der Stimmen aller Überseegebiete konnte Marine Le Pen auf sich vereinen, allerdings dicht gefolgt von Jean-Luc Mélenchon (20,8 Prozent), François Fillon (20,7 Prozent) und Emmanuel Macron (20,4 Prozent) – und ohne bei einem einzelnen Gebiet auf dem ersten Platz zu gelangen. 2012 hatte ihr Anteil noch bei 8,35 Prozent gelegen und war damit damals schon hoch. Mit den Ergebnissen aus diesem ersten Wahlgang stand der FN 2017 zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik an der Spitze der französischen Überseegebiete. Die Gründe für diese Entwicklung können durchaus unterschiedlicher Natur sein. Der Politikwissenschaftler Deschamps erklärt, dass der FN keine großen Gewinne bei den letzten Abstimmungen auf La Réunion für sich verzeichnen konnte – außer bei den Präsidentschaftswahlen. „Das ist auf die miserable Qualität des lokalen Kaders zurück zu führen, aber auch auf die Tatsache, dass andere Parteien, bestimmte Themen auf der lokalen Ebene für sich beanspruchen, die typisch für den FN sind“.
Ob der Unterschied zwischen Regional- und Präsidentschaftswahlen auch den großen Anstieg in diesem Jahr erklärt, bleibt offen. Die Abwesenheit zahlreicher Wähler als auch das umfassende Programm des FN könnten ein anderer möglicher Grund für dessen Sieg sein. Hinzu kommt, dass „Marine Le Pen nicht mehr verteufelt wird und einige Wähler sich heute bei Interviews getrauen zu sagen, dass sie sie wählen“, so Martens. Er führt den sprunghaften Anstieg auf die Immigrationsbewegungen zurück, von denen alle Übersee-Departements betroffen sind, und die Versprechen von Marine Le Pen.
Wer für die kommenden fünf Jahre die Geschicke Frankreichs und damit auch die der meisten Überseegebiete leiten wird, wird sich am Sonntag zeigen. Die französischen Überseegebiete entscheiden dabei nicht die Wahl, können ihr aber unter bestimmten Bedingungen eine gewisse Richtung verleihen. Ob sich die heiß umkämpften Stimmen dann auch in die Umsetzung der spezifischen und auf die jeweiligen Überseegebiete bezogenen Wahlversprechen verwandeln lassen, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt.

Die Französische Republik besteht nicht nur aus dem Kerngebiet in Westeuropa, sondern umfasst darüber hinaus Staatsterritorium im atlantischen, indischen und pazifischen Ozean (siehe Kartenansicht HIER). Diese Überseegebiete lassen sich hinsichtlich ihres rechtlichen Status in die Départements d’outre-mer (Übersee-Departements) und Collectivités d’outre-mer (Übersee-Gebietskörperschaften) untergliedern. Während die Départements d’outre-mer (Französisch-Guayana, Guadeloupe, La Réunion, Martinique und Mayotte) den gleichen Rechtsstatus haben wie ihre Pendants auf dem europäischen Kontinent, sind die Collectivités d’outre-mer (Clipperton-Insel, Französisch-Polynesien, Französischen Süd- und Antarktisgebiete, Neukaledonien, Saint-Barthélemy, Saint-Martin, Saint-Pierre und Miquelon, Wallis und Futuna) rechtlich unterschiedlich stark an Frankreich angebunden.

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