Was können uns Trumps Wahlsieg, eine niederländische Datenjournalistin und die derzeitige COVID-19-Krise über unseren Umgang mit Zahlen und Statistiken sagen?
von Frank
„Jeder Deutsche konsumiert jährlich etwa eine Badewanne voll Bier, Wein und Spirituosen“ – dieser Satz ist natürlich völliger Unsinn. Denn vermutbar haben viele Leser dieser Zeilen nicht annährend 130 Liter alkoholische Getränke zu sich genommen. Und jeder einzelne der rund 82 Millionen Deutschen – vom Kleinkind bis zum Greis – sowieso nicht. Trotzdem: „Jeder Deutsche konsumiert jährlich etwa eine Badewanne voll Bier, Wein und Spirituosen“, lautete kürzlich eine Meldung beim Deutschlandfunk; dies sei „das Ergebnis des aktuellen Jahrbuchs Sucht.“
Gemeint war eigentlich auch nicht „jeder Deutsche“ – sondern „Verbraucher in Deutschland (ab dem Alter von 15 Jahren) durchschnittlich pro Kopf“. Verkürzter, auch verzerrender Umgang mit statistischen Daten ist keine Seltenheit im heutigen schnelllebigen Medienbetrieb, der die Realität in Facebook-Sharepics abzubilden versucht. Und solche Zahlen sind überall: Prozentangaben zu Lohnunterschieden oder zur Erhöhung von Schadstoffausstößen, die Entwicklung der Kriminalität, Unfallzahlen im Straßenverkehr oder Einstellungsmuster der Bevölkerung – jeden Tag verkünden Nachrichtensprecher und Zeitungsartikel Unmengen an statistischen Erkenntnissen. Ein nahezu kontinuierliches Zahlen-Rauschen.
Das Prozentzeichen suggeriert Präzision und Fassbarkeit
Diese Zahlen sollen Komplexität reduzieren, Verhältnisse fassbar(er) machen. Wir rechnen schließlich mit Zahlen – sie bedeuten für uns „Berechenbarkeit“: Wer etwas zu beziffern vermag, am besten auf die Nachkommastelle genau, kann ein Problem erfassen, einschätzen, kontrollieren. Vermeintlich ist das so, doch auch Zahlen sind längst nicht immer so eindeutig, wie es der flüchtige Blick erscheinen lässt. „Während man Wörtern schnell Doppeldeutigkeit unterstellt, geben Zahlen scheinbar neutral die Wirklichkeit wieder. Kurz gesagt, Zahlen erscheinen automatisch objektiv. Es ist also gar nicht so verwunderlich, dass sie unsere Gesellschaft beherrschen“, schreibt die niederländische Ökonometristin und Journalistin Sanne Blauw in ihrem aktuellen Buch. Blauw ist Datenkorrespondentin der Zeitung De Correspondent, für die sie eine Kolumne zum Einfluss von Zahlen auf unser Leben schreibt.
Im Vorwort ihres Buches (mit dem programmatischen Untertitel „Wie Zahlen uns in die Irre führen“) schreibt Blauw: „Zahlen an sich, wie Wörter, sind unschuldig. Es sind die Menschen hinter den Zahlen, die Fehler begehen.“ Ihr Buch handle auch von uns allen, den „Zahlenkonsumenten“ und zeigt anhand mitunter erstaunlicher Beispiele, wie die Zahlenkonsumenten „sich von Zahlen blenden und in die Irre führen lassen.“
Dieses Blenden-Lassen, so möchte man ergänzen, ist dabei nicht zuletzt dem Kursieren einer unglaublichen Vielzahl an Informationen in klassischen und sozialen Medien geschuldet. Problematisch sind nicht einmal nur falsche (im Sinne von unwahre) Zahlen, sondern noch häufiger eine einseitige oder bewusst verfälschende Auslegung der Daten. Statt Orientierung und Berechenbarkeit sind das Ergebnis: Unsicherheit und Manipulation.
Die Krisenjahre der Zahlen
Eine gesellschaftliche Verunsicherung in Bezug auf (offiziell verlautbarte) Zahlen lässt sich in den zurückliegenden Jahren anhand bestimmter gesellschaftlicher „Großwetterlagen“ feststellen. Einen bis heute spürbaren Schlag versetzte der vermeintlichen Unschuld der Zahlen die so genannte Flüchtlingskrise ab dem Sommer 2015: Plötzlich wurden Werte wie die „Schutzquote“ diskutiert und Zahlen zu Grenzübertritten, Einreisen oder Ausweisungen hatten so hohe Brisanz wie nie. Diese wurden mit einer derartigen Frequenz kolportiert, dass Zahlen hier gerade keine Sicherheit oder Glaubwürdigkeit schufen – eher im Gegenteil. Lautstark wurden nicht nur die behördlich vermeldeten Statistiken angezweifelt (und die sie transportierenden Medien als „Lügenpresse“ verunglimpft); über soziale Netzwerke wurden auch systematisch falsche oder verzerrte Informationen verbreitet – ein Zustand, der gerade im digitalen Raum bis heute anhält (und inzwischen wohl noch stärker das Themengebiet Umwelt und Klima betrifft).
Anders gelagert, aber umso augenscheinlicher war die schwarze Stunde, die Donald Trumps Wahlsieg 2016 der Zunft der Demoskopen und Umfrageinstitute bescherte: Obwohl die überwiegende Mehrzahl von Prognosen und Umfragen seine Konkurrentin Hillary Clinton als klare Favoritin in der US-Präsidentschaftswahl ausgemacht hatten, fuhr Trump einen Überraschungssieg ein. Immerhin erwiesen sich die Prognosen insofern als korrekt, dass Clinton auf das ganze Land gerechnet tatsächlich rund drei Millionen Stimmen mehr erhielt, doch das konnte nur ein schwacher Trost sein. Auch mancher Politikwissenschaftler zweifelte sicher durch den unerwarteten Wahlsieg des Milliardärs an den eigenen Methoden und Prognosefähigkeiten.
Forschung zu kommunizieren ist nicht trivial
Die Rolle der Wissenschaft kommentiert auch Buchautorin Sanne Blauw: Man erkenne häufig, so die Datenjournalistin, wie sich „Wissenschaftler beim Sammeln und Interpretieren von Daten von ihren – bewussten oder unbewussten – Vorurteilen und Überzeugungen leiten ließen“. Und sie ergänzt: Uns, den Konsumenten dieser Zahlen, gehe es oft ganz ähnlich.
Was jedoch als Problem bei der Vermittlung zwischen Wissenschaft und der breiten Bevölkerung hinzukommt, ist der Umstand, dass viele Wissenschaftler – bei aller fachlichen Expertise in ihrem Forschungsbereich – nicht unbedingt dafür geschult sind, ihre Daten und Erkenntnisse einem breitem (statt dem kleineren, facheigenen) Publikum zu präsentieren. Nicht ohne Grund leisten sich Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen eigene Abteilungen für Pressearbeit und Wissenschaftskommunikation. Diese leisten enorm wichtige Arbeit, indem sie Daten und Fakten aus der Forschung für Medienvertreter aufbereiten. Aber ein Nachdenken muss natürlich vom Journalisten selbst geleistet werden – zum Beispiel über die Tragweite und Aussagekraft (und deren Einschränkung!) der Ergebnisse. Methodik und Zustandekommen von Studien sind (auch und oft sogar gerade in den Geisteswissenschaften) keineswegs trivial oder irrelevant für das Verständnis der daraus hervorgehenden Zahlen. Dass Antwortmöglichkeiten in einer Befragung oder die Größe einer Stichprobe großen Einfluss auf die am Ende in der Überschrift vermeldete „Mehrheit der Deutschen“ haben können, muss zumindest mitgedacht werden, bevor man Statistiken in Schlagzeilen übersetzt. Dass ein verkürztes „So denkt Personengruppe X“ eine nicht nur gewagte, sondern sogar unzulässige Vereinfachung der Realität darstellt, müsste mittlerweile eigentlich geläufig sein.
Doch Beispiele wie die eingangs erwähnte Alkohol-Badewanne des DLF zeigen eine andere Prioritätensetzung: Content muss her, zumal im digitalen Zeitalter der Twitter-Feeds, Sharepics und kurzen Aufmerksamkeitsspannen. Längst nicht nur Web-Angebote von Presse und Rundfunk, sondern jeder E-Mail-Anbieter füttert seine Startseite mit schnell zu konsumierenden „News“ (und das gern mit geringem Personalaufwand). Ohne viel Hinterfragen oder Kontext, fix ein Symbolfoto aus dem Archiv dazu – alles wird nach dieser Verwertungslogik zur Nachricht, längst nicht nur die Tweets des US-Präsidenten.
Corona-News, Grippe-Zahlen und widerstreitende Virologen
Diese Herangehensweise wurde in der COVID-19-Krise erneut deutlich: Gefühlt jeder Betreiber einer Internetseite wollte plötzlich mit einem eigenen „Corona-Ticker“ aufwarten, und einmal eingerichtet musste dieser natürlich in Bewegung gehalten werden, notfalls indem sich offizielle Infizierten-Zahlen mit B-Promi-News und allerhand Twitter-Einlassungen vermischen.
Nicht wenige Stimmen – abseits der üblichen „Lügenpresse“-Krakeeler – zeigten sich auch kritisch, dass Deutschlands Medien zu oberflächlich, zu wenig hinterfragend mit der COVID-19-Thematik im Allgemeinen und den veröffentlichten Zahlen im Speziellen umgingen, möglicherweise weil Expertise im eigenen Haus oft fehlt (Wissenschaftsjournalisten wachsen nicht auf Bäumen).
Doch gerade in einer solchen Krise sind Faktenchecks, Kontextualisierung und kritisches Hinterfragen besonders wichtig. Denn eine Zeit der Unsicherheit, in der die meisten Bürger (und Journalisten) zum Ersten mal etwas von der „Reproduktionszahl“ eines Virus hören, bietet den besten Nährboden für die Verbreitung falscher oder irreführender Informationen. Das Nebeneinander verschiedener Erkenntnisse, Prognosen und Regelungen (selbst wenn man ausschließlich die deutsche Situation in den Blick nimmt) erzeugt nun seit fast zwei Monaten ein konstantes Rauschen von Informationen und Zahlen, das alles andere als Kontrolle oder Berechenbarkeit vermittelt. Längst nicht jeder, der mit Zahlen um sich wirft, hat aufklärerische oder demokratische Absichten. Und nicht jede Zahl lässt sich mit einer anderen einfach vergleichen – die in vielen Online-Diskussionen bemühten Grippetoten zeigen, dass sich darüber längst nicht jeder im Klaren ist.
Für die Medien mit ihrem Informationsauftrag gilt es also, Unklarheiten zu erkennen und Unwahrheiten zu begegnen – aber eben auch Uneindeutigkeiten als solche zu benennen und auszuhalten. Zumal sich zeigt: Auch in den oft als (verglichen mit Geistes- oder Sozialwissenschaften) „objektiver“ geltenden Forschungsbereichen sind sich längst nicht immer alle Experten einig darüber, welche Zahlen „die richtigen“ sind oder wie bestimmte Werte und Entwicklungen zu interpretieren sind.
Zahlen den richtigen Platz zuweisen
Datenjournalistin Blauw warnt in ihrem Buch: „Zahlen sind sowohl Wirkung als auch Ursache davon, wie die Welt aussieht. Zahlen scheinen die Wirklichkeit nur passiv zu erfassen, aber das ist absolut falsch: Sie gestalten die Wirklichkeit.“ Selten wurde dieser Effekt so deutlich wie in den letzten Wochen anhand der Corona-Fallzahlen und ihrer Auswirkungen auf unseren Alltag.
Und wie bei anderen Beispielen der jüngeren Vergangenheit zeigt sich auch hier, dass gerade die gesellschaftlichen Eliten in Wissenschaft, Medien und Politik, die in der Regel Urheber und/oder Verkünder der Zahlen sind, auf Unmut, Misstrauen oder zumindest Skepsis stoßen. Nur zu gern nutzt eine laute Minderheit dies für den Versuch, sich als Alternative, als die eigentliche Aufgeklärten zu inszenieren. Inmitten eines Informations- und Zahlenstroms, in dem alles zur Eilmeldung wird, verbreiten solche Gruppierungen ihre „Version“ der Realität.
Die verkürzte Darstellung komplexer Sachverhalte kann nicht die richtige Antwort auf diese Probleme sein – besonders dann nicht, wenn damit Erwartungen geweckt werden, die keine Zahl je einzulösen vermag. Buchautorin Sanne Blauw nennt es die Aufgabe, die Zahlen an den richtigen Platz zu verweisen: „nicht auf das Podest, nicht auf den Müll, sondern an die Seite von Wörtern.“ Das kann entscheidend sein, um zwischen all den schwirrenden Informationen einen klaren Kopf bewahren – und vor allem die richtigen Fragen zu stellen an die Zahlen, die uns begegnen. Dann werden wir auch schnell feststellen, dass niemand von uns eine Badewanne Alkohol wird trinken müssen.
Zum Weiterlesen:
Sanne Blauw:
Der größte Bestseller aller Zeiten (mit diesem Titel) – Wie Zahlen uns in die Irre führen
DVA 2019
224 Seiten
20,00 Euro
CORRECTIV Faktencheck:
Die 15 häufigsten Gerüchte und Theorien zum Coronavirus im Faktencheck (online, April 2020).
„Unstatistik des Monats“ (RWI Essen):
Corona-Pandemie – Statistische Konzepte und ihre Grenzen (online, März 2020).
Ingrid Brodnig:
Im Zweifel für den Zweifel (aus der Reihe „Mein Blick auf den Journalismus“ auf journalist.de, Mai 2020).