Traue keinem Link, den du nicht selbst gesetzt hast…

(Foto: flickr/ Vónbjørt)
(Foto: flickr/ Vónbjørt)

…und keinem User, der plötzlich auftaucht, einen Link postet und wieder verschwindet. Eine Woche im Onlinemarketing und das Internet verkommt zum Lügenpool.

von Jenny

Berlin, irgendwo. Ein Loft im Hinterhaus. Zweiter Stock, abgezogene Dielen, ein lichtdurchfluteter Raum. Deckenhohe Glasscheiben trennen separate Bereiche ab. Das ist nicht die Beschreibung einer Traumwohnung, sondern der Ort des vermeintlichen Traumpraktikums. Ich meistere das Bewerbungsgespräch und bin guter Dinge; durchaus voller Vorfreude, denn was ich höre, klingt sehr gut. Online-Redaktion, Artikel schreiben, ein bisschen Suchmaschinenoptimierung (SEO) – kann ja nicht schaden zu wissen, wie das geht. Wäre ein guter Start, denn finanziell bringt es auch etwas, mehr als ich mir sonst – als Geisteswissenschaftler – erhoffen kann. Am nächsten Tag die Zusage, noch eine Woche Zeit. Ehrlich gesagt kenne ich mich gerade im SEO nicht aus, aber das scheint niemanden gestört zu haben.
Montagmorgen, 45 Minuten Weg zum Traumloft. Die Begrüßung fällt freundlich aus, das Büro ist gut gefüllt, überall tippen Tastaturen, dahinter die jungen Mitarbeiter im Sonnenlicht. Ich bekomme einen eigenen Schreibtisch, sitze mit etwa 80 Menschen im gleichen Raum. Vor mir ein dickes Blätterbündel. Für den ersten Tag steht also Selbststudium an und das Abarbeiten einer Smiley-Liste. Mit dieser soll ich beweisen, dass ich innerhalb weniger Tage alle Mitarbeiter kennengelernt, also ein paar grundlegende Sätze ausgetauscht habe. Für jeden Small Talk gibt es einen Smiley. Schnell bemerke ich: In der 30-köpfigen Onlineredaktion sind mindestens zehn Praktikanten, in den anderen Abteilungen haben viele als solche angefangen. Ich fühle mich alt. Eine 18-jährige Praktikantin strahlt mich an und wirft mit Begriffen um sich, die ich noch nie gehört habe. Wird schon, denke ich mir. Sie kann es ja auch. Selbststudium beendet, Feierabend.
Eine Schulung ist der zweite Schritt. Ich sitze in einem der integrierten Glaskästen und bekomme eine Kurzfassung der „Guideline“ zu hören. Hauptsächlich geht es aber um Google. Ich soll also dafür sorgen, dass Kunde XY möglichst auf der ersten Trefferseite landet, wenn ein zu ihm passender Suchbegriff eingegeben wird. Dazu setze ich einen Link auf eine Seite, Google erfasst, wie häufig das geschieht und vergibt danach Punkte. Je nach Bewertung landet mein Kunde auf einer der vorderen Seiten, oder eben nicht. So weit, so gut.

Nerdkeller mit Neonlicht
Mein Kopf schwirrt. Nachdem ich mich bei allen für die interne Verwaltung nötigen Plattformen angemeldet habe, bekomme ich mein erstes Projekt. Wie ich dazu erfahre: Hier wird nach dem „Learning by doing“-System gearbeitet. Ich öffne die Datei – mir wird flau im Magen. Fluchtgedanken, doch ich sitze und fange mechanisch an die Liste mit den ersten in dieser Branche üblichen Schritten abzuarbeiten: E-Mail-Accounts und somit neue Identitäten anlegen. Danach in Internet-Foren anmelden. Meine private Internetaktivität beschränkt sich auf einen Bereich, der diese Orte ausschließt. Ich stellte sie mir immer vor wie ein Keller voller Nerds, die vom Licht aus Neonröhren nicht gerade gesünder wirken. Sei´s drum, jetzt bin ich – dank meiner neuen Identitäten – auch hier. Der Kunde hat gewisse Anforderungen. Niveauvoll, passend zum Forum. Allein diese Kriterien passen nicht zusammen: Die Optik der betreffenden Foren und ein Blick in die dort geführten Konversationen lassen auf wenig Niveau schließen. Aber ich lerne auch, dass meine Vorurteile nicht stimmen. Es gibt tatsächlich Foren, in denen sich „normale“ Menschen bewegen. Menschen wie du und ich. Oder sind alle wie ich?
Nun aber zum Job. Fakten zählen am Ende, meine Linkliste wird kontrolliert, schließlich bekommt sie der Kunde vorgelegt. Er stellt 15 Links zur Verfügung, die ich in den nächsten sieben Tagen „verstecken“ soll. Jeden darf ich nur in einem Forum posten und muss vorher eine gute Geschichte drum herum erfinden. Alles soll echt wirken. Meine Ichs dürfen nur für dieses Projekt verwendet werden. Neben der Anzahl der Kommentare wird auch deren Struktur vorgegeben. Einer muss den zu postenden Kundenlink enthalten, zwei einen „trusted link“. Diese sind zum Thema passende Berichte von Zeitungen; Videos, Bilder und auch Wikipedia-Artikel zählen zu vertrauenswürdigen Links. Den Rest verwendet man, um sich vorzustellen und ein möglichst normales Userbild aufzubauen. Nur nicht auffallen ist die Devise. Die Basics habe ich, morgen geht’s weiter.
„Singlebörsen und Partnervermittlungen“ im Internet ist das große Überthema meines Projekts. Meine Rückfrage wegen moralischer Bedenken wird irritiert lächelnd weggeschwiegen. Ich tue mich schwer. Erstes Nachhaken bezüglich meines Vorankommens folgt – ebenso wie ein deutlicher Hinweis darauf, dass ich noch keinen Link platziert habe. Kurz darauf: Lob vor versammelter Mannschaft und eine verbale Aufnahme ins Team. Der erste Haken auf der Liste. Ich habe tatsächlich in einer Woche vier Kundenlinks versteckt.

Liebe und Lügen
Meine Vorurteile gegenüber den anderen habe ich schnell abgelegt. Nicht alle sind Nerds, nicht jeder verbringt sein Leben ausschließlich im Netz. Diese Erkenntnis macht es für mich noch schlimmer: Ich habe Menschen, die womöglich verzweifelt und einsam sind, angelogen. Ich habe ihnen Hoffnung gemacht: „Hier kannst du ihn finden, ich hab ihn hier auch gefunden.“ Oder: „Ich hab mich auf dieser Seite angemeldet. Die zocken dich nicht ab.“ Wobei die Signalworte „hier“ und „diese Seite“ zum Kundenlink führen und somit den vermeintlich ersten Schritt Richtung Traumpartner weisen. Ich schäme mich. Liege nachts wach, sehe morgens in den Spiegel und kann mir kaum in die Augen blicken. „Da sitzt irgendwo einer, der ist traurig, verletzt, einsam – und du lügst ihn an!“, pocht es in meinem Kopf. Ich schleppe mich wieder hin, es läuft nicht gut, die Zeit ist zäh wie alter Kaugummi. Sie ist auch genauso geschmacklos. Ich mache Fehler, bringe meine virtuellen Ichs durcheinander, jetzt muss ich retten, was zu retten ist. Muss ich? Der Entschluss, alles hinzuschmeißen, fällt mir eigentlich schwer. Jetzt fasse ich ihn ins Auge.
Nach einer weiteren durchwachten Nacht und dem nicht enden wollenden Suchen nach Vorteilen, die sich eventuell gegen die Nachteile aufwiegen lassen, will ich nur noch eins: raus. Es ist Freitag, ich bin pünktlich und verfolge das Ziel, mit Brötchen unterm Arm nach Hause zu gehen.

Das hatten wir noch nie
Meine Teamleiterin könnte mich mit ihrem Blick töten. Helfen kann sie mir nicht. Noch nie habe ihr jemand von moralischen Bedenken erzählt, andere Aufgaben könnte ich vielleicht hin und wieder bekommen, aber Links setzen würde immer dazu gehören. Es sei normal in diesem Zweig, alle machten das so. Das will ich nicht. In meinem Kopf schmeißt sich ein bockiges Kind auf den Boden und strampelt mit den Beinen. Ob ich es bin oder sie, es passt auf beide. Sie schickt mich zur Personalerin. Wieder Irritation. Sie kann mir nicht sagen, was ich jetzt machen soll, das gab es hier noch nie. Sie schickt mich zum Chef. Er zitiert mich in einen der kleineren Glaskästen, wieder erzähle ich meine Bedenken. Ich kann und will so nicht arbeiten. Sicher ist das Ambiente schön, der Kühlschrank voll Club Mate und der Obstkorb für alle luxuriös, im Gegensatz zum kargen Büro in der Uni. Natürlich bekomme ich Geld dafür. Aber: Moral kann man nicht bezahlen.
Er kann mir nicht helfen und scheint mich auch nicht ernst zu nehmen. Stolz verabschiedet er sich. Es ist fast Feierabend. Ich reiche meine Kündigung ein, für die Frist von zwei Wochen erbitte ich mir eine Freistellung – ich will damit nichts mehr zu tun haben. Man kann es einen Fehlstart nennen. Ich nenne es einen Erfolg. Ich weiß jetzt, was ich nicht will.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert