Was bewegt eine junge deutsche Frau dazu, 1968 nach Tansania aufzubrechen, um dort Entwicklungshilfe zu leisten? Erinnerungen an entlegene Dorfschulen, afrikanische Küche und Rinderimpfungen.
von bexdeich
Bereits als Kind hat mich eine Kappe aus Zebrafell fasziniert, die ich in der Verkleidungskiste meiner Oma fand. Ich weiß nur, dass Oma Anke sie aus Afrika mitgebracht hat. Jetzt, als Erwachsene, bin ich neugierig, klemme mir die ungewöhnliche Kappe unter den Arm und schaue bei meiner Großmutter zum Kaffeetrinken vorbei. Ich erfahre, dass die Kopfbedeckung zur Dienstkleidung der East African Airways gehörte. Sie war das Geschenk einer tansanischen Freundin, die als Stewardess bei dieser Fluglinie arbeitete.
Spätsommer 1968: Eine junge Frau steht allein auf der staubigen, heißen Landebahn von Dodoma, der Hauptstadt von Tansania. Zuvor hat Anke Thun mit anderen Entwicklungshelfern vier Wochen in Daressalam, dem Regierungssitz an der Küste, die Amtssprache Swahili gelernt. Vergeblich wartet sie nun darauf, in Empfang genommen zu werden. Mit fortschreitender Stunde wächst das Unbehagen und ihr schwant, dass zwei turbulente Jahre auf sie zukommen. Es wird dunkel und es ist kaum noch jemand am Flugplatz. Nachdem man sie erst in einem Bordell unterbringen will, landet sie mit der Unterstützung eines Deutschen doch noch im „Kaiser-Hotel“, das während der deutschen Kolonialzeit eigens für Kaiser Wilhelm II. gebaut worden war – der allerdings nie dort ankam. Nach drei Tagen ist die Nachricht, dass die neue Entwicklungshelferin da ist, auch bis zu ihrer Einsatzstelle, dem von Einheimischen geführten Teacher Training College in Mpwapwa, durchgedrungen und sie wird aus Dodoma abgeholt.
Anke Thun hat ursprünglich Hauswirtschaft gelernt und freundet sich während einer Weiterbildung im schleswig-holsteinischen Glücksburg mit einer Deutschen aus Namibia namens Armgard an. Abends sitzen sie, jede in ihrer Wanne, in der großen Badestube der Ausbildungsstätte und Armgard erzählt Alltägliches und Spannendes vom namibischen Leben. Anke ist beeindruckt und es entsteht der vage Wunsch, es irgendwann einmal mit eigenen Augen zu sehen. Da sie schon immer Fernweh hatte, verlässt sie den Norden nach ihrem Abschluss und übernimmt die Versorgung des Landesjugendheims in Stuttgart. Aufgrund der schwierigen Zustände und der strikten Regeln im Heim überwirft sie sich mit ihrer Chefin. Durch Zufall entdeckt sie genau zu diesem Zeitpunkt einen Aufruf des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) in der Zeitung. „Das war meine Chance, da herauszukommen“, erzählt sie. Spontan schickt sie ihre Bewerbung ab und wird zum Auswahlverfahren eingeladen. Nach diversen Tests, Diktaten, Diskussionsrunden und Gesprächen ist klar: Tansania ist das nächste Ziel.
Revolte ohne Anke
Anfang April 1968 beginnt in Berlin die dreimonatige Vorbereitung auf den Auslandsaufenthalt. Sprachunterricht, Verhaltenstraining, Landeskunde und Selbsthilfetechniken, zum Beispiel Verbände anlegen oder Reifenwechsel, stehen auf dem Programm. Am 11. April berichtet der Dozent den 30 zukünftigen Entwicklungshelfern, dass Rudi Dutschke angeschossen wurde. Abends geht die Gruppe zusammen ins Audimax der Technischen Universität Berlin, wo sich die Anhänger der Studentenrevolte häufig treffen. Plötzlich ist Anke mittendrin: „Da ging es hoch her.“ Mit den anderen beteiligt sie sich auch an der Demonstration vor dem Axel Springer-Verlag und macht ihre erste Bekanntschaft mit Wasserwerfern. Daraufhin gibt der DED die Anweisung, sich aus politischen Aktivitäten herauszuhalten. „Keiner wollte seinen Entwicklungsdienst aufs Spiel setzen, wir blieben von da an zuhause.“ Bevor sie nach Tansania fliegt, kleidet sich Anke neu ein. Alle Ausreisenden bekommen Bekleidungsgeld, denn für offizielle Anlässe wird eine schicke Garderobe benötigt. „Erscheine nie zu einem Empfang ohne Strümpfe“, erinnert sie sich schmunzelnd. Anke kauft eine Auswahl an Minikleidern, die zu dieser Zeit sehr angesagt sind. In Tansania merkt die junge Frau sehr schnell, dass die Minimode im Alltag nichts zu suchen hat. Sie kauft sich bunt bedruckte Kitenge-Stoffe und näht sich lange Wickelröcke, Blusen und Tops.
In Mpwapwa wohnt Anke in einem alten englischen Kolonialhaus. Der DED hat alle Entwicklungsarbeiter dazu verpflichtet, eine Haushaltshilfe einzustellen und ein Zehntel des eigenen Gehalts (in Ankes Fall 50 DM) dafür zu zahlen. So wird gewährleistet, dass der Verdienst nicht nur für das eigene Vergnügen genutzt wird, sondern auch Einheimischen zugutekommt. Daher kommt einmal in der Woche der Tansanier Simon mit seiner Familie aus einem naheliegenden Dorf vorbei. Sie haben eine Unterkunft bei Anke, kümmern sich um den Haushalt und nutzen die Möglichkeit, dort unkompliziert mit Fließendwasser duschen und waschen zu können. Wenn Schulferien sind, unterstützt Anke Tierärzte bei der Tsetsefliegen-Untersuchung und fährt mit ihnen für Rinderimpfungen durchs Land. Sie kommt aber auch in den Genuss, den halben Kilimandscharo hinauf zu klettern und den Serengeti-Nationalpark zu erkunden.
Fahnenappell und Maisbrei
1968, nach der Unabhängigkeit von Großbritannien und der Verbindung mit Sansibar, existiert Tansania seit vier Jahren als Staat. Präsident Julius Kambarage Nyerere verfolgt den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Anke und die anderen ausländischen Lehrer aus Kanada und den USA bekommen dies in Ansätzen im Teacher Training College mit. Der Tag für die Studenten beginnt um fünf Uhr morgens mit einem einstündigen Militärlauf. Danach versorgen einige das Vieh, andere Studenten kochen Maisbrei. Vor dem Unterricht wird die Fahne gehisst und auch Anke muss antreten. Das vom DED verhängte Verbot an politischen Aktivitäten teilzunehmen gilt eigentlich auch für das Ausland. Aber erst als Präsident Nyerere die Schule, eine der größten im Land, besucht, können die ausländischen Lehrer eine Befreiung vom Morgenappell durchsetzen.
Am Teacher Training College unterrichtet Anke angehende Lehrer in Gesundheit und Ernährungslehre. Gleich zu Beginn stellt sie fest, dass die deutschen, auf vier Personen ausgerichteten Grundrezepte für die tansanischen Bedürfnisse völlig ungeeignet sind. Reis oder Maismehl bilden dort die Nahrungsgrundlage. „Im ersten halben Jahr sind mir viele Fehler passiert. Missverständnisse mussten aufgeklärt werden. Ich musste selbst erst Erfahrungen sammeln“, berichtet Anke. Außerdem betreut sie regelmäßig dreißig bis vierzig Studenten, die Praktika an den teils sehr entlegenen Schulen im Umland absolvieren. Anke beobachtet den Unterricht der Studenten und gibt ihnen anschließend Ratschläge. Auf der Ladefläche ihres Landrovers hat sie stets einige Wasserkanister und Kohl dabei. So erspart sie den Studenten zumindest einmal in der Woche den morgendlichen, bis zu zehn Kilometer langen Weg zum Wasserloch.
Manchmal frustriert die Arbeit. Abends sitzen die ausländischen Lehrer in einer Runde zusammen und sprechen darüber. Anke meint: „Wir sollten alle gehen. Tansania muss in Ruhe gelassen werden, auch wenn es daran zerbricht. Aber nur so wird das Land selbst Initiative zeigen, sich entwickeln. Und wenn es hundert Jahre dauert, dann hätte es zumindest Bestand.“
Damals wie heute ist ihr bewusst, dass man den Industrieländern wie Deutschland im Umgang mit den Ländern des Südens vieles vorwerfen kann. Eine Antwort, wie dieses Dilemma zu lösen ist, hat sie nicht. Anke ist sich auch nicht sicher, ob sie während ihres Einsatzes viel erreicht hat; für den Moment gewiss. Den Studenten konnte sie sicherlich etwas beibringen und sie schienen Anke auch für kompetent zu halten. Einige schickten Anke ihre Examensarbeiten zur Korrektur nach Deutschland. Es waren viele kleine Dinge, die sie ein wenig verbessern konnte. Unter anderem hat sie ein Kochbuch für den Hauswirtschaftsunterricht am Teachers Training College verfasst. Persönlich zehrt sie bis heute sehr von der Zeit in Tansania und hat einen differenzierteren Blick auf die Welt. „Das Fernweh blieb groß. Zwei Jahre später bin ich nach Äthiopien gegangen. Aber das ist eine andere Geschichte“, erzählt Oma Anke mir beim Abschied. Ich wünsche, ich hätte früher nachgefragt – und lege die Zebrafellkappe zurück in die Verkleidungskiste.
(Fotos: privat)
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