Seit den 1950er Jahren schreibt eine besondere Industrie Erfolgsgeschichte – die Pharma-Industrie. Ihr Einfluss auf psychologische und therapie-wissenschaftliche Entwicklungen ist mittlerweile so groß, dass eine Behandlung ohne Psychopharmaka immer undenkbarer wird. Es gibt aber Alternativen, die nicht nur schmerz-, sondern auch kostensparender sind.
von Dennis Pieter
Zwischen 2007 und 2016 haben sich die Verschreibungen von Psychopharmaka in Deutschland knapp verdoppelt, allein zwischen 2015 und 2019 ist der Konsum von Antidepressiva um etwa 10% gestiegen. Ein Artikel des FOCUS online aus dem Jahr 2015 hält diese Entwicklung aber für durchweg positiv: Der Anstieg des Antidepressiva-Konsums korreliere mit der sinkenden Suizidrate, könne die „Krankheit heilen“ und stehe für eine allmähliche Enttabuisierung derselben. So riskant das Folgende auch klingen mag: Vielleicht steht die Enttabuisierung, von der da die Rede ist, wirklich nur für die Enttabuisierung von Psychopharmaka, und eigentlich für eine stärkere Tabuisierung psychischer Symptome und ihrer Ursachen. Natürlich gibt es neuronale Störungen, die zu psychischen Leiden führen können, die Kausalität kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung gehen, was viel zu oft negiert wird. Und so wundert sich ein Psychiater nicht selten, warum psychische Leiden nicht aufhören, obwohl er die Dosis eines Psychopharmakons, welches komplexe Neurotransmissionen beeinflussen soll, schon zweimal erhöht hat, wenn es doch eigentlich geboten wäre, dem Patienten einfach mal zuzuhören.
Psychopharmaka scheinen zunächst eine ideale Lösung dafür zu sein, Arbeitskraft wieder zu ertüchtigen. Sie sind billig in Produktion und Distribution, verursachen Nebenwirkungen, die durch andere Psychopharmaka wieder eingehegt werden können. Vor allem Antipsychotika sind nach nunmehr drei Generationen der Entwicklung immer noch so schädlich für Körper und Geist, dass von Psychosen Betroffene oft eine Absetzung und damit einen erneuten psychotischen Schub vorziehen. Durch geschickte Lobby-Arbeit und einer in diesem Kontext fragwürdigen empiristischen Methode konnte auch die eine andere Antwort auf psychische Leiden geschwächt werden, nämlich Psychotherapien, insbesondere deren Langzeitbehandlungen. Erst Anfang Februar fiel auch der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach negativ in der „Psycho“-Bubble auf, als er in einer Fragestunde darauf hinwies, dass „die Therapie nach Richtlinie sehr lange immer dauert“ und schwere Fälle weniger behandelt würden, weil diese sich seltener „trauen“. Lauterbach sowie seine Vorgänger ignorierten dabei die reale Situation, dass bis zu 80% der Langzeittherapien in Deutschland noch vor dem ersten Stundenkontingent beendet werden und somit überhaupt keine Überlänge konstatiert werden kann. Aber es ist ein Strohmann, den Lauterbach wohl braucht, um seine geplante „Effizienzsteigerung“ – das heißt: Ausdünnung – der Therapiestruktur rechtfertigen zu können.
Das Therapiekonzept der Gruppe 388
Läge dem Gesundheitsministerium etwas an der psychischen Gesundheit der Bevölkerung, würde sie sich ein Vorbild nehmen an der Gruppe 388, welche ich im Folgenden vorstellen möchte. Die 388, nach den ersten Nummern ihrer Adresse benannt, sind ein kanadisches Psychoanalytiker-Kollektiv, das sich seit 1982 auf die Behandlung von Psychosen spezialisiert hat. Es handelt sich vor allem um eine lacanianisch ausgerichtete Klinik, d.h. an den Theorien und Praxen Sigmund Freuds und Jacques Lacans ausgebildet. „Psychose“ bedeutet im Vokabular der Lacanianer etwas anderes als es die psychologischen und psychiatrischen Kataloge ICD-11 und DSM-5 zu fassen erlauben. Während sich die Psychologie als empirische Wissenschaft versteht, sieht sich die Psychoanalyse als Strukturwissenschaft – nach Lacan aber überraschenderweise nicht als Wissenschaft der menschlichen Psyche, sondern als eine der menschlichen Sprache. Psychose, worunter auch Menschen des autistischen Spektrums fallen, wird demnach als eine Disposition verstanden, die einen anderen Zugang zur Sprache als Neurotiker entwickeln und daher eine qualitativ andere Wahrnehmung der Welt haben. Konkreter lässt sich sagen, dass es für einen Psychotiker keinen Unterschied zwischen inhaltlicher Aussage und formaler Aussageposition gibt; alles, was ausgesagt wird, ist auch so gemeint. Nach dieser Auffassung ist die Psychose nicht – wie die Psychologie meint – eine episodisch auftretende Störung der ansonsten „normal“ ablaufenden psychischen Prozesse, sondern etwas Fundamentales.
In der Regel gelangen von Psychosen Betroffene erst nach einem psychotischen Schub zur Therapie, sei es durch äußere Hilfe oder nicht. Einen solchen „Einbruch“ kann man nur erträglicher gestalten, was Psychopharmaka vorgeben zu tun. Deshalb werden Psychotiker allzu oft mit Antipsychotika alleingelassen und wenn sich die Ausmaße der Psychose vergrößern, werden sie oft isoliert, abgestempelt als „unheilbar“ und „verrückt“. Schwere Psychosen sind fast immer Anlass für soziale Ausgrenzung; Ursache jedoch ist die fehlende gesellschaftliche Bereitschaft, Psychotikern einen anerkannten Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Heute, wie vor 100 Jahren, leben nicht wenige von Psychosen Betroffene ihr ganzes Leben in einer geschlossenen „Heil“anstalt.
Es ist aber auch möglich eine auf Antipsychotika und Isolation verzichtende Behandlung zu bieten, die langwieriger, dafür aber langfristig erfolgreicher und kostengünstiger ist. Diese Behandlungsart ist im Fall der 388er die Psychoanalyse. Eine solche Behandlung bedarf einer 24/7-Notfallbetreuung und mehrjähriger Gesprächssitzungen, was gut ausgebildetes und zahlreich vorhandenes Personal voraussetzt. Im Gegensatz zu Medikationen oder Freiheitseinschränkungen jeglicher Art soll eine warme soziale Atmosphäre gefördert werden, in der gemeinsame Projekte erarbeitet werden, gelernt, gekocht, gespielt wird. Man kann deshalb nicht von einer Klinik sprechen, eher von einem Programm. Das Haus, in welchem die 388er betreuen, ist ein Haus zum Leben, nicht zum Kranksein. „Mehrjährig“ muss aber relativiert werden. Während ein psychologisch oder psychiatrisch behandelter Psychotiker nach etwas, das Psychiater „Erfolg“ nennen, durchschnittlich sechs Jahre hospitalisiert bleiben, konnten die 388er diese Zeit um 90% verkürzen. Eine Studiengruppe aus 82 Personen, die drei oder mehr Jahre lang im Haus der 388er verbracht haben, hat Erstaunliches gezeigt: Wo zu Beginn der Behandlung 24% der Besucher ein halbwegs sozial aktives Leben führen konnten, waren es nach drei Jahren 71%, 56% der untersuchten Gruppe waren sogar imstande, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen.
Anfang der 2000er Jahre stand das Haus der 388er kurz vor der Schließung. Grund war die zunehmende Kritik an der Psychoanalyse – sie sei veraltet und wissenschaftlich nicht falsifizierbar. Dabei handelt es sich beim Wort „wissenschaftlich“ um ein sehr voraussetzungsreiches und ist alles andere als ideologiebefreit. Dass diese ideologischen Debatten praktische Konsequenzen für das Leben vieler nach sich ziehen, wird dann zum Kollateralschaden erklärt.
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