Zum Mann gemacht

Qamile Stema in typisch männlicher Kleidung. Sie wurde 1920 als Frau geboren (Foto: Vincze Miklós)

In albanischen Bergregionen lebt seit dem Ende des Kommunismus die Tradition der Blutfehde wieder auf. Wenn alle Männer der patriarchalischen Familien tot sind, werden einzelne Frauen, sogenannte „Eingeschworene Jungfrauen“, zu Männern gemacht.

von Babs

Albanien hat seit dem 28. November 1998 eine neue Verfassung, die die Rechte aller Bürger des Landes normiert. Doch in den abgeschiedenen Regionen des südosteuropäischen Landes gelten nach wie vor die Gesetze des Kanun, des Gewohnheitsrechts der dortigen Bergregionen. Es besteht seit mindestens tausend Jahren und hat sich gegen alle von Regierungen und Besatzungsmächten eingeführten Regelungen behauptet.
Begründet ist das unter anderem dadurch, dass der Kanun alle Belange der ländlichen Gemeinschaft regelt, von der Eheschließung bis hin zur Wirtschaft. Seine Vorschriften basieren auf dem Grundsatz der Ehre, deren Träger jedoch nur männlich sein kann. Eine Entehrung bedeutet nach den Vorschriften des Kanun den gesellschaftlichen Tod. Ein Angriff auf sie – etwa wenn ein Mann einen anderen öffentlich der Lüge bezichtigt – kann jedoch nicht durch die Übergabe von Land, Geld oder durch Ähnliches vergolten werden – nur Blut kann den Ausgleich erzielen. Die Tötung eines männlichen Familienmitglieds stellt aber seinerseits einen Angriff auf die Ehre der Familie dar und muss durch Blutrache wiederhergestellt werden. Deswegen werden in den betroffenen Regionen noch immer Fehden ausgetragen.
Ohne einen männlichen Nachfolger kann die Familie nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Nach dem Kanun ist eine Frau lediglich Eigentum des Familienoberhauptes, jedoch keine Trägerin eigener Rechte: Nur ein Mann darf auf Gemeindeversammlungen sprechen und nur er kann erben. Wenn alle männlichen Nachfahren der Familie ausgelöscht wurden, gehen Haus und Hof automatisch an den nächsten männlichen Verwandten über – und damit alle Bewohner. Deshalb hat sich in Albanien ein heutzutage sonst fast ausgestorbenes Phänomen erhalten: das der Eingeschworenen Jungfrauen (burrnesha); Frauen, die einen Schwur (besa) nach dem Kanun abgelegt haben, um von diesem Moment an als Männer zu leben. Sie ändern zwar ihren Namen nicht, werden von der Gesellschaft aber fortan wie Männer behandelt. Ihnen kommen all die Vorrechte zu, die in der patriarchalischen Gemeinschaft ansonsten für Frauen undenkbar wären: Sie tragen Hosen, Waffen, Uhren, dürfen rauchen, sitzen bei Zusammenkünften mit den Männern gemeinsam an einem Tisch – und sind ebenfalls Teil der Blutrache.
Für einen flüchtigen Beobachter sind die Eingeschworenen Jungfrauen nicht von den anderen Männern zu unterscheiden – und auch für sie selbst spielt der biologische Unterschied kaum eine Rolle. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass der Geschlechterwandel in den Köpfen der Bevölkerung nicht vollkommen vollzogen wird. Gerade bei der Beerdigung einer Eingeschworenen Jungfrau treten diese Unterschiede zu Tage: Die Trauerfeier mit Klagegesang bleibt den „richtigen“ Männern vorbehalten.
Die meisten der Frauen legen den Schwur ab, um ihre Familie, Haus und Hof erhalten zu können. Manchmal ist es auch eine persönliche Entscheidung der Frau, zum Mann werden zu wollen. In den Bergregionen wird die Ehe nach wie vor von den Vätern arrangiert, häufig ebenfalls, um die Sozialstruktur der Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Eine Ablehnung des versprochenen Ehemannes durch die Frau bedeutet für die Familie eine Schande. Um diesem Fluch zu entgehen, legen einige Frauen den besa ab – so müssen sie nicht heiraten.
Trotz der vielen Privilegien, die sie sonst in dem hierarchischen und konservativen System nicht hätten, bleibt den Eingeschworenen Jungfrauen eins für immer verwehrt: Ihnen ist es untersagt, irgendeine Form der sexuellen Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Für den Kanun ist der Schwur, den die Frau ablegt, eine religiöse Äußerung. Wird dieser gebrochen, ist nicht nur die Frau, sondern die ganze Familie bis in die siebte Generation entehrt.
Dass die Eingeschworenen Jungfrauen äußerlich nicht von anderen Männern zu unterscheiden sind, ist wohl einer der Gründe dafür, dass nicht bekannt ist, wie viele dieser cross-gender-Frauen es in Albanien noch gibt. Es scheint jedoch das einzige Land im europäischen Raum zu sein, das ein Phänomen des cross gender aufrecht erhält.
Auch wenn Albanien das Land ist, in dem wohl noch die meisten Eingeschworenen Jungfrauen leben, beschränkte sich das Phänomen seit Beginn nicht nur auf dortige Bergregionen. Es existierte auch im Süden Montenegros, im Norden Mazedoniens und in weiten Teilen des Kosovo – alles albanische Siedlungsgebiete, in denen der Kanun galt. In der sozialistischen Ära verlor er jedoch an Bedeutung: Die klassischen patriarchalischen Strukturen wurden aufgebrochen, auch Frauen gingen nun einer entlohnten Arbeit nach und wurden wirtschaftlich selbstständig. Dadurch lockerte sich auch die Abhängigkeit vom Mann.
Nach dem Ende des Kommunismus blieben viele Konflikte um Landbesitz ungeklärt – und wurden von den Betroffenen nicht selten mit Waffengewalt ausgetragen. Die politische Instabilität führte dazu, dass sich der Kanun als geltendes Recht in Albanien wieder etablieren konnte. Mit ihm lebte aber auch die Blutfehde wieder auf.
Während in Europa die Geschlechterrollen seit Jahrhunderten klar definiert wurden und sich jeder entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen musste, finden sich im außereuropäischen Raum einige Beispiele für das cross-gendering. Gerade in Afrika oder Nordamerika gibt es ethnische Gruppen, die eine eindeutige Geschlechterzuordnung vermeiden.
Interessant ist im Zusammenhang mit den Eingeschworenen Jungfrauen ein vergleichbares Phänomen im Südosten Nigerias. Die Igbo, eine Volksgruppe, sind ähnlich patriarchalisch organisiert wie die Gesellschaft in den Bergregionen Albaniens. Wenn hier kein Sohn als Nachfahre geboren wird, wird er durch eine Tochter ersetzt, die als Junge aufwächst.
So revolutionär dieser Ansatz im ersten Moment wirkt, so konservativ ist er bei näherer Betrachtung – Regelungen wie die des Kanun behalten selbst in Zeiten der Globalisierung ihre Gültigkeit. Das Gewohnheitsrecht wird nicht so weit gelockert, dass es auch einer Frau, die ihr soziales Geschlecht nicht ändert, erlaubt wird, vollwertig am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Stattdessen wird die Frau zum Mann gemacht.

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