Die Diskussion zum gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder entfacht einen Konflikt um das aktuelle Schulsystem. Ist Inklusion die optimale Lösung und die beste Alternative zu den Förderschulen oder doch eine realitätsfremde Vorstellung?
von Elisa
Im März 2009 trat in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kraft. Sie fordert u.a. ein inklusives Schulsystem auf allen Ebenen und das Recht auf Bildung, um Chancengleichheit und individuelle Förderung zu verwirklichen.
„Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live.“
De facto sollte es bei einer Umsetzung keine Förderschulen mehr geben – jedoch verbietet die Konvention diese auch nicht ausdrücklich. Heranwachsende sollen nicht mehr auf Grund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden: „Inklusion“ ist das Stichwort. Gemeint ist die Anpassung der Gesellschaft an die individuellen Belange jeder Person, sodass optimale Rahmenbedingungen für sie geschaffen werden. Der Begriff „Integration“ drückt hingegen die Anpassung seitens der Person an die Gesellschaft aus, was in diesem Fall unangebracht ist. Im Schulkontext verdeutlicht, gliedert die integrative Schule ein behindertes Kind in den auf nichtbehinderte Kinder ausgerichteten Unterricht ein, während die inklusive Schule von Beginn an offen für alle Kinder ist.
Der Grundstein für den gemeinsamen Unterricht in Deutschland wurde bereits in den 1970er-Jahren gelegt, indem erste Integrationskindergärten öffneten. Auch gründeten sich die staatliche Integrations-Modellschule in Berlin und die private Montessorischule in München. Die zahlreichen Veränderungen an den jeweiligen Länder-Schulgesetzen betrafen jedoch nur selten den Sonderschulbereich, sodass die Inklusion bisher zumeist nur auf Drängen der Eltern möglich wurde.
Italien und die 99,9 Prozent
Wirft man allerdings einen Blick ins europäische Umland, stellt man fest, dass dort zeitgleich schon aktiv an der Integrationsproblematik gearbeitet wurde. Um inklusive Bildung in allen Bildungsstufen zu verwirklichen, wurde der Schwerpunkt der Schulreform auf die Individualisierung und Personalisierung des Lernens gelegt. So wurden beispielsweise spezifische Erziehungspläne für behinderte Kinder und die „differenzierte Leistungsbewertung“ eingeführt. In Italien werden nach offiziellen Zahlen 99,9 Prozent der behinderten Schüler in normalen Regelschulen unterrichtet. Der gemeinsame Unterricht ist hier, aber auch in Skandinavien oder Großbritannien, eine generell gesellschaftlich akzeptierte Realität. Während Inklusion in anderen Ländern realisierbar erscheint, wirkt das Sonderschul-System in Deutschland sehr festgefahren. Haben Lehrer ohne sonderpädagogische Zusatzausbildung Berührungsängste? Oder werden beeinträchtigte Kinder in Förderschulen ganz einfach doch am besten betreut?
Besonders ausführlich hat sich Jutta Schöler, emeritierte Professorin der Erziehungswissenschaft an der TU Berlin, mit der Inklusionsproblematik beschäftigt. Sie ist der Meinung, dass Kinder nicht verschiedenen Schultypen zugeordnet werden sollten – egal ob sie behindert sind oder nicht. Nachdem sie in den 60er Jahren als Hauptschullehrerin gearbeitet hatte, begann Schöler in den 80er Jahren mit ihrem Fachwissen inklusionsorientierte Schulen zu begleiten.
Das Ziel sei ihrer Meinung nach, kein Kind auszusondern und jedem die Möglichkeit zu bieten, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen: „Wo keine Aussonderung stattfindet, ist auch keine Integration nötig!“ Es sollte zum Beispiel selbstverständlich sein, dass beeinträchtigte Kinder mit ihren nichtbehinderten Geschwistern eine Schule gemeinsam besuchen. In der Vergangenheit gelang schon die erfolgreiche Inklusion von Kindern in Grundschulen und Regelschulen. Davon, so die Erziehungswissenschaftlerin, profitieren sowohl behinderte als auch nichtbehinderte Kinder. Zahlreiche Studien haben zudem ergeben, dass körperlich und geistig behinderte Schüler im gemeinsamen Unterricht mehr lernen als in Sonderschulen, während die Schulleistungen der Kinder ohne Förderbedarf sich dabei nicht verschlechtern. Kritiker bezweifeln dies allerdings, da die Zahl der Lehrkräfte selten dem entstehenden Mehraufwand angepasst wird.
Verständnis vs. Geld
Gleichzeitig werde Schölers Auffassung nach im gemeinsamen Unterricht nicht erwartet, dass alle Schüler dieselben Ziele erreichen. Viel bedeutender sei die Akzeptanz der Verschiedenheit und die Möglichkeit, in der Gemeinschaft der Gleichaltrigen aufzuwachsen und dort die besondere Unterstützung zu erhalten, welche die Kinder benötigen. Auch soll die beiderseitige Toleranz und Sozialkompetenz gestärkt werden, doch empirische Beweise gibt es dafür nicht. Was Schöler jedoch zu vergessen scheint, ist, dass insbesondere während der Pubertät Jugendliche nicht gerade vor Verständnis und Rücksicht sprühen und besonders der Umgang mit Verschiedenheit schon unter nicht-behinderten Jugendlichen eine Herausforderung ist.
Um diesem Problem zu begegnen, will Schöler Behinderte an Gymnasien integrieren, da hier die Wahrscheinlichkeit größer sein sollte, auf Verständnis der Mitschüler für Unterschiedlichkeit zu treffen. Dazu müssten aber auch die Lehrer und Sonderpädagogen bereit sein, miteinander zu kooperieren und zieldifferenzierten Unterricht zu erarbeiten. Denn generell wären alle Schulen in der Lage, behinderte Schüler aufzunehmen, weil, so die Erziehungswissenschaftlerin, das Engagement der Lehrer und Schüler das Wichtigste sei und alles andere nachgerüstet werden könne.
Doch hat es Sinn, alle Schulen umzubauen und nötige Therapien in den Schulalltag zu integrieren, obwohl es Einrichtungen gibt, die perfekt auf die speziellen Beeinträchtigungen eingestellt sind? Klaus Scheuermann, stellvertretender Schulleiter der Körperbehindertenschule in Erfurt, hegt daran starke Zweifel: Vom finanziellen Standpunkt aus mache es kaum einen Unterschied, da Sonderschulen sehr teuer sind und das Geld auch auf andere Schulen umgeleitet werden könnte, um sie behindertengerechter zu gestalten. „Allgemeine Schulen wissen oft nicht, was es bedeutet, Kinder mit speziellem Förderbedarf inklusiv zu unterrichten ohne diesen Schülern den Eindruck zu vermitteln, dass sie doch eine Sonderstellung in der Klasse haben“, meint der Pädagoge. „Die Schulen sind wenig vorbereitet auf die inklusive Bildung und Erziehung“. Wenn also die hinderlichen Berührungsängste erhalten blieben, seien alle baulichen und materiellen Voraussetzungen nutzlos.
Das Ziel einer Sonderschule sei es zudem nicht, die Kinder „wegzusperren“, sondern ihnen den Umgang mit ihrer Beeinträchtigung zu ermöglichen und sie lebenspraktisch zu fördern. Auch die Kinder nähmen sich selbst nicht als „ausgesondert“ wahr. Förderzentren sind darüber hinaus stets bestrebt, dem inklusiven Unterricht nicht im Weg zu stehen und Schüler für die Eingliederung in die Regelschule vorzubereiten, die das Potenzial für eine solche Ausbildung zeigen. „Es kommt dann auch vor, dass das erhoffte Verständnis der Mitschüler und Bemühungen seitens der Lehrer zu wünschen übrig lassen und die Kinder deshalb wieder zurück zur Förderschule kommen.”, erklärt Scheuermann.
Wie schaffen es die Lehrer?
Doch wirklich verwunderlich ist es nicht, dass Lehrer, die keinerlei Sonderschulausbildung haben, sich mit der Betreuung von Kindern mit Förderbedarf überlastet fühlen. Inklusions-Verfechterin Schöler sähe dieses Problem behoben, wenn alle Lehramtsanwärter – anstelle eines Unterrichtsfaches – in ihrem Studium einen sonderpädagogischen Schwerpunkt wählen könnten. Alternativ sieht sie die Möglichkeit, gleichzeitig zur Vorbereitung auf die Unterrichtstätigkeit auch die Methodik für Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen zu vermitteln.
In Wirklichkeit ist diese Überlegung eher unrealistisch, bedenkt man, dass ein Studium zum Umgang mit lediglich einer Art von Beeinträchtigung, beispielweise körperliche oder geistige Behinderung, zusätzlich zum allgemeinen Studium noch zwei Jahre dauert. Dann ist auch fraglich, ob begleitende Fortbildungsmaßnahmen ausreichend sind, um individuellen Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden.
Wo das Unmögliche gelang
Dennoch gibt es Beispiele, die positiv stimmen. Als Vorzeigeschule für Inklusion gilt das Werner-von-Siemens-Gymnasium im niedersächsischen Bad Harzburg: Hier gelingt die Inklusion von drei Kindern mit Down-Syndrom und einer Schülerin mit körperlicher und geistiger Behinderung. Aber der Regelfall ist das nicht: Die inklusive Klasse lernte bereits in der Grundschule erfolgreich zusammen; Eltern und Schüler machten sich daraufhin dafür stark, dass die Klasse auch in der weiterführenden Schule zusammen bleibt. Die Umstände waren günstig, da sich auch am Gymnasium alle Lehrer bereiterklärten, diese Herausforderung – mit der Unterstützung von drei Fachleuten – anzunehmen. Im offenen Unterricht haben die behinderten Kinder die Möglichkeit, in einen angrenzenden zweiten Klassenraum zu gehen, wenn der Rest der Klasse andere Aufgaben bewältigt. So funktioniert der Schulalltag.
Doch wirklich kann man nicht von Inklusion sprechen, da es weiterhin Sonderaufgaben und unabkömmliche Zusatzbetreuung gibt. In jedem Fall sollte das Recht auf Bildung und Chancengleichheit für alle Kinder an erster Stelle stehen, allerdings scheint Inklusion dafür ein utopischer Weg zu sein. Vielleicht sollte sie sich vielmehr mit der Integration verbinden, sodass unter guten Bedingungen jedes Kind seinen Bedürfnissen gerecht lernen kann.
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