Bücher können uns neue Perspektiven eröffnen, Ideen vermitteln, Meinungen ändern. Besonders wichige Bücher werden auch meist im Bezug auf besonders wichtige Themen geschrieben. Deswegen haben wir für euch die unserer Meinung nach wichtigsten Bücher des letzten Jahrzehnts ausgewählt, die sich an die Großen Fragen herantrauen: egal ob Digitalisierung, Klimawandel oder Migration. Von Utopie bis Dystopie.
1. Maja Lunde – Die Geschichte der Bienen
Drei Menschen. Drei Epochen. Drei Geschichten von Verlust und Hoffnung, die durch ein kleines Wesen miteinander verbunden sind: die Biene. Im Jahr 1852 hat ein Biologe eine bahnbrechende Idee für einen neuen Bienenkasten. Im Jahr 2007 versucht ein Imker mit seiner Handwerkskunst gegen die Industrie zu bestehen, bis schließlich beide machtlos werden, als das Bienensterben beginnt. Im Jahr 2098 arbeitet eine junge Frau als Bestäuberin, da Bienen längst nicht mehr existieren und es nun an den Menschen ist, ihre Aufgabe zu übernehmen. Maja Lunde beschreibt in ihrem Buch ein düsteres sowie zugleich allzu realistisches Szenario, das ein Aushängeschild dafür ist, wie sehr der Mensch versucht, von der Natur zu profitieren und sie dabei ausbeutet, obwohl er sie doch beschützen und im Einklang mit ihr leben sollte. Wer von dieser Lektüre Unterhaltung oder Eskapismus erwartet, wird enttäuscht werden. Stattdessen versteht es die Autorin, ein reales Anliegen, eine wichtige Botschaft in das Schicksal dreier Menschen zu verpacken und so ihre Leser auf fesselnde Art und Weise mit drängenden Fragen unserer Zeit zu konfrontieren.
2. Paul Auster – 4 3 2 1
Archie Ferguson – ein Protagonist, vier Lebensgeschichten: In seinem Roman 4 3 2 1 lässt Paul Auster einen jungen Mann mithilfe des Zufalls auf vier alternative Weisen Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA aufwachsen. Während ein Archie als rebellischer Teenager bei einem Unfall ums Leben kommt, finden die anderen Archies ihren jeweils eigenen Weg zur Schriftstellerei: über die antirassistischen und pazifistischen Studentenproteste an der New Yorker Columbia University, über einen Aufenthalt in den Bohemiens-Kreisen von US-Exilkünstlern in Paris, über ein gescheitertes Studium in Princeton. In sieben Kapiteln mit je vier (Lebens-)Abschnitten führt der Autor seine Archies durch ihre alternativen Lebenswege und die Leser durch die USA in den konservativen 1950ern und aufbruchslustigen 1960ern. Auster beschäftigt sich dabei mit vielen Themen, die ihn seit Beginn seiner Autorenkarriere begleiten: von jüdisch-amerikanischer Identität bis zu komplizierten Hassliebebeziehungen in Familien; von der schöpferischen Genese von Texten bis zur obsessiven Leidenschaft für Baseball und Kino.
3. Marc-Uwe Kling – QualityLand
Ein aufstrebendes Land in der Zukunft. Technologie hat die Macht übernommen. Nicht durch marschierende Androiden-Truppen, sondern durch die unsichtbare Hand der Algorithmen der Megakonzerne. Jene Algorithmen, die einst dafür geschaffen wurden, uns mehr von dem zu zeigen, was wir mögen, bestimmen nun längst unseren Geschmack und unsere Ansichten. In diesem Land des scheinbaren Glücks und Überflusses muss Peter Arbeitsloser realisieren, dass es sehr schwer ist, sein Los im Leben zu verbessern, wenn in seinem digitalen Profil festgeschrieben steht, wer er ist und was er will. Denn Peter ist ein „Nutzloser“ – jemand, der zur untersten sozioökonomischen Schicht gehört und dem sich in jeder Hinsicht nur die schlechtesten Chancen bieten. Doch Peter will sich das nicht gefallen lassen. Marc-Uwe Kling beschreibt das ultrakapitalistische Schein-Schlaraffenland mit seinem unvergleichlichen Humor bekannt aus der Känguru-Trilogie, hier jedoch als chronologisches und zusammenhängendes Narrativ. Mit der Thematisierung von Social-Credit-Scores, Wahlmanipulation, hyper-personalisierten Timelines, die Menschen in geistigen Parallelwelten leben lassen, und der Bombardierung jedermanns mit seiner eigenen Meinung auf sozialen Medien erschafft er ein im Kern erschreckend realistisches Zukunftsbild. Ein postmoderner Orwell?
4. Alex Perry – In Afrika: Reise in die Zukunft
Der Journalist Alex Perry schreibt mit seiner Sammlung von Reportagen gegen ein stereotypes Afrika-Verständnis an. Während einige Volkswirtschaften der Subsahara-Länder zu den am schnellsten wachsenden der Welt gehören, ist das mediale Bild des Westens vor allem von Spendenkampagnen geprägt, sodass Afrika oft lediglich als leidender, auf Hilfe angewiesener Kontinent dargestellt wird. Ganz abgesehen davon, dass man den zweitgrößten Kontinent der Erde nicht als Einheit betrachten kann, weil er unheimlich diverse Landschaften, Kulturen, Religionen und politische Systeme aufweist. Perrys Buch steckt voller Zukunftsperspektiven, es zeigt das innovative, emanzipierte Afrika. Er erzählt einerseits die Geschichte eines erfolgreichen Freiheitskampfes, trifft führende und streitbare politische Figuren wie Robert Mugabe und Paul Kagame, liefert andererseits aber auch eine realistische Darstellung der postkolonialen Misere und des Leides, das diese für die Menschen bedeutet. Das ist oft schmerzhaft zu lesen, aber ein wichtiger Beitrag in der Debatte um Rassismus, Ausbeutung und Entwicklungshilfe, der wenig theoretisiert, sondern die konkreten Folgen illustriert.
5. Ramita Navai – Stadt der Lügen: Liebe, Sex und Tod in Teheran
Was macht Totalitarismus mit Menschen? Wie ist das Leben in einer Stadt, in der einem nichts anderes übrigbleibt, als Bedürfnisse zu verstecken, wenn man nicht verfolgt werden möchte? Ramita Navais Antwort hierauf ist: Lügen, das Leben im Verborgenen. Sie schreibt von Doppelleben, von Vätern, die vorgeben nach Mekka zu pilgern und doch eigentlich nach Thailand fliegen, von Mullahs, die Zukunftsvorhersagen per Handy verschicken und von heimlich getragenen Jeans und Turnschuhen. Sie schreibt von Witwen, die es sich leisten könnten, auszuwandern, aber es doch nicht übers Herz bringen, von jungen Frauen, die sich scheiden lassen wollen und von Attentätern, die Gewissensbisse bekommen. Navai verwendet dabei eine ganz eigene Form des Schreibens: Statt traditioneller Reportagen kreiert sie Kurzgeschichten, in denen sie echte Biographien packend verdichtet, gleichzeitig wichtiges geschichtliches Wissen vermittelt und einen emotionalen Zugang zur Lebensrealität sehr unterschiedlicher sozialer Gruppen in Teheran ermöglicht. Selten wurde die Wahrheit über das Lügen so gut und packend erzählt.
6. Dave Eggers – The Circle
Was wäre, wenn Unternehmen sich wie Sekten verhalten, wenn sie durch umfassende Transparenz und Überwachung zunehmend soziale Kontrolle erzeugen, sich aber gleichzeitig mit der Aura von Weisheit und Zukunftsorientierung einhüllen würden? Davon handelt das Buch von Dave Eggers, welches sich streckenweise wie eine bitterböse Persiflage auf Google, Amazon, Facebook und Co. liest. Die naive Hauptdarstellerin Mae wird in eine böse, komplexe und verführerische Welt hineingezogen, die mit Slogans wie „Geheimnisse sind Lügen“ oder „Privatheit ist Diebstahl“ wirbt. So zeichnet Eggers die Dystopie eines Informationsstaates, die immer wieder ins satirische rutscht, aber auch auf viele wichtige Probleme der Gegenwart aufmerksam macht, ohne dem Leser fertige Antworten auf die zentrale Frage aufzutischen.
7. Saša Stanišić – Wie der Soldat das Grammofon repariert
Kaum ein Buch wurde je so überzeugend aus der Perspektive eines Jungen mit überschäumender Fantasie geschrieben, wie das bei Saša Stanišićs erstem Roman der Fall ist. Von einem auf den anderen Tag ist der Jugoslawienkrieg in Aleksanders Leben, wo vorher vor allem Tito, Angeln und rauschende Feste bei den Urgroßeltern Platz hatten. Er steht dabei ganz besonders zwischen den Fronten, schließlich ist er das Kind einer Serbin und eines Bosniers. Doch das Buch bleibt nicht beim Verlust stehen, sondern erzählt ebenso nuancenreich vom Finden einer neuen Heimat in Deutschland und von der Entfremdung des Rückkehrers, der auf einmal in Bosnien nur noch ein Gast ist. Der Roman leistet einen wichtigen Beitrag zur Integrationsdebatte, gerade weil er die Perspektive eines Kindes zeigt, das nicht immer die ganze Tragweite seiner eigenen Erlebnisse begreift und damit implizit erwachsene Selbstverständlichkeiten hinterfragt.
8. Edward Snowden – Permanent Record
„I used to work for the government, but now I work for the public.” Mit diesen Worten leitet ein 36-jähriger Techniker im Bereich IT-Sicherheit seine Autobiografie ein. Nachdem seit Jahren von Dritten versucht wird, die Ereignisse des NSA-Überwachungsskandals in Form von Artikeln, Büchern und Filmen aufzuarbeiten, erzählt Edward Snowden diese Geschichte nun im Kontext seines eigenen Lebens. Er legt dar, wie die expansive Autorität der US-Regierung nach 9/11 das Internet seiner Kindheit zerstörte und es von einem Ort der Anonymität und Autonomität zu einem Instrument der Massenüberwachung umfunktionierte und wieso er sich vom Helfer bei der technischen Umsetzung der Massenüberwachung zum bisher wichtigsten Whistleblower des Jahrhunderts wandelte. Permanent Record zeigt sowohl die Tragweite als auch die Banalität des Systems der Massenüberwachung, erklärt was es bedeutet, ein Whistleblower zu sein und weshalb die CIA darauf angewiesen ist, dass bei Ihr jede Nacht eine neue Kassette eingelegt wird.
9. Yuval Noah Harari – eine kurze Geschichte der Menschheit
In einer immer komplexer werdenden Welt, mit Unmengen an Fragen, Dystopien und Utopien, begibt sich Yuval Noah Harari an den Anfang der Menschheit zurück und nimmt die Leser in herausstechend verständlicher Art und Weise, auf eine Reise durch die Geschichte der Menschheit mit – vom homo sapiens bis zu den „Beherrschern der Welt“. Eine kurze Geschichte der Menschheit ist ein Fundus an Wissen, überschreitet dabei die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und befasst sich mit den spannenden und drängenden Fragen unserer Zeit: Von den ersten Höhlenmalereien, über die kognitive, landwirtschaftliche und wissenschaftliche Revolution bis in die Moderne hinein mitsamt ihrem technologischen Fortschritt und sozialen Problemlagen. Harari bewegt sich präzise zwischen dem Menschen als Bedrohung für sich selbst und die Welt und dem Menschen als Krone der Schöpfung, auch wenn am Ende unklar bleibt, wie es mit der Menschheit weitergehen wird.
10. Christiana Dachler – Vox
Einhundert Worte dürfen Frauen pro Tag sprechen – so hat es die Regierung beschlossen. In Christiane Dachlers Vox wird auf realitätsnahe Art und Weise eine Dystopie konstruiert, die an vergangene Jahrhunderte und Epochen erinnert. Ein feministischer Roman, der thematisiert, was möglich sein könnte, wenn alle wegschauen und darlegt, wie schnell sich Gedankengut in den Köpfen der Menschen verankert. Überholte Auffassungen werden in zeitgenössischen Themen verpackt. Frauen werden unterdrückt, ihnen wird jegliche Chance auf Bildung und eine Karriere genommen, Homosexualität ist eine Straftat, Sex vor der Ehe ein Verbrechen – die Strafen: Arbeitslager oder Tod. Mitten in dieser Welt lebt eine Sprachforscherin, Mutter, Ehefrau und Rebellin, die sich nicht mit diesem mittelalterlichen Amerika abfinden möchte. Der Kampf gegen diese Herrschaft gipfelt in einer Utopie – düstere Gedankenspiele, Vergleiche zur Realität, zu bekannten Regimes der Gegenwart und Vergangenheit beschäftigen und bleiben im Gedächtnis.
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