Am Samstag (27. August) spielten beim Kunstfest in Weimar das Ensemble Avantgarde und das Klangforum Wien Uraufführungen europäischer Komponisten nebst älteren Werken der Neuen Musik und Franz Liszts. unique berichtet.
von David
Den Preis des erfolgreichsten Rausschmeißers gewann der Komponist Steffen Schleiermacher: Drei Zuhörer verließen den Saal, während er die Uraufführung seiner eigenen Komposition „Geborstene Einsamkeit“ dirigierte. Mit je zwei Flüchtigen stehen Morton Feldman (posthum) und Vladimir Tarnopolski gleichrangig auf dem zweiten Platz. Dritter ist Edgar Varèse (posthum) mit einem Zuschauer, der dem Orchester den Rücken zuwandte. Neue Musik ist eben nicht jedermanns Geschmack.
Mit vier Programmblöcken und fünf Uraufführungen zog sich das dichte Programm von 20 Uhr bis kurz nach ein Uhr morgens. Der Konzertsaal der Weimarhalle wurde dafür in eine „Lounge“ verwandelt. Weiße Sessel und Hocker, rote Couchtische, grüne Sitz-und-Liege-Säcke, Palmen und eine große Leinwand mit einer kitschigen Darstellung von Berlioz, Liszt, Richard Wagner und Nike Wagner beim Verzehr von Austern und Champagner sorgten auf gezwungene Art und Weise für eine „ungezwungene“ Atmosphäre. Ein Moderator führte die Zuhörer rhetorisch ungelenk in die einzelnen Programmblöcke ein. „Überflüssig wie ein Kropf“, war die Meinung meiner Sitznachbarin über den Moderator. Einfache Programmflyer hätten den Zuhörern tatsächlich mehr geholfen, aber die gab es leider nicht.
Franz Liszt – ein Prophet der Neuen Musik?
Der Russe Vladimir Tarnopolski, der Ungar Laszlo Vidovszky, der Italiener Stefano Gervasoni, der Franzose Mark Andre und der Deutsche Steffen Schleiermacher huldigten mit der Uraufführung von Auftragswerken Franz Liszt. Dieser wird üblicherweise nicht mit Neuer Musik assoziiert. In einem kurzen Redebeitrag wies Steffen Schleiermacher jedoch darauf hin, dass Liszt in seinen düsteren und kargen Spätwerken durchaus im Vorgriff auf das 20. Jahrhundert mit Dissonanzen, Polytonalität, ausgedehnten Pausen und ungewöhnlichen Tonarten experimentierte. Schleiermacher dirigierte das Ensemble Avantgarde im dritten Programmblock mit drei Stücken: „Instruments II“ des amerikanischen Komponisten Morton Feldman, einer von Schleiermacher selbst instrumentierten Fassung von Liszts „Trauergondel“, und schließlich der Uraufführung seines eigenen Werks „Geborstene Einsamkeit“. Alle drei Kompositionen wurden nacheinander ohne Pause, sondern mit fließenden Übergängen gespielt und verschmolzen so stimmig zu einem 45-minütigen, meditativen Ganzen.
In den anderen drei Konzertblöcken dienten Liszts Kompositionen eher als kontrastive Auflockerungen zu den Stücken Neuer Musik. Überaus spannend war die Eröffnung des Abends mit Tarnopolskis „Last and Lost“, einer Komposition mit „ebenso vielen Pausen wie Noten“, so der Komponist. Das Stück kam so frisch, humorvoll und spielerisch wie unprätentiös daher. Mark Andres „da“ im zweiten Block war ein ebenso lohnendes experimentelles Spiel mit Stille und Raum, besonders dank der Verteilung dreier der sechs Musiker abseits der Bühne im Konzertsaal. Auf die Dauer anstrengend war Gervasonis „Froward“, ein reines Klangexperiment, dem gefühlte zehn Minuten Kürzung gut getan hätten. Vidovszkys „Reverb“ machte deutlich, warum Neue Musik so viele Menschen abschreckt: richtungs- und stimmungslos, hektisch, aggressiv und scheinbar nach dem Motto komponiert, dass mehr mehr ist.
Ligeti in Weimar
Obwohl in der zweiten und dritten Pause massiver Zuschauerschwund einsetzte, fand der Abend seinen Höhepunkt am Ende des vierten Akts. Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard gab, zusammen mit dem Klangforum Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling, György Ligetis „Konzert für Klavier und Orchester“ zum Besten. Es ist das für Pianist, Orchester und Dirigent erklärtermaßen anspruchsvollste und virtuoseste Werk des ungarischen Komponisten. Aimards Notenwenderin, die den ganzen Abend diskret, aber souverän assistiert hatte, war nun klar überfordert, was man ihr aber keineswegs übel nehmen kann. Das Orchester und Aimard machten aus Ligetis polymetrischem und polytonalem Kraftakt – trotz der eher mittelmäßigen Akustik in der Weimarhalle – ein wunderbares Konzerterlebnis, das keine Audioaufnahme ersetzen kann.
Wieder habe ich zur Senkung des Altersdurchschnitts im Publikum beigetragen. Gleichaltrige fanden sich vor allem in Form der Veranstaltungsmitarbeiter/innen und einiger junger Damen, die ihre zwanzig bis dreißig Jahre älteren (Ehe-)Partner begleiteten. Ob 40- bis 60-Jährige sich eher für Konzertabende interessieren als jüngere Menschen, oder doch der hohe Eintrittspreis einen höheren jungen und studentischen Anteil im Publikum verhindert, sei dahin gestellt. Trotzdem war das Konzert bei über fünf Stunden Dauer (mit insgesamt einer Stunde Pause) ein lohnendes Erlebnis.
(Foto: © Lukas Beck)
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