Die Transformationen des Glaubens
Von der Privatisierung und Entzeitlichung der Mensch-Welt-Beziehung

von Michael

Glauben im herkömmlichen, abendländischen Sinne ist etwas, das sich im Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft abspielt. Doch bietet das Thema Glauben, insbesondere wenn es um die Transformation des Glaubens geht, auch andere Herangehensweisen. Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich Prädikat, Objekt und Subjekt des Glaubens im Laufe der Zeit verändert haben.

Das Prädikat „glauben“ könnte man auch durch „lieb haben“ ersetzen. Glauben beinhaltete einst, dass man sich in einem Kollektiv befindet, welches gemeinsam eine Ordnung aufrecht erhält und in welchem also jedes Gruppenmitglied sein Möglichstes zu dieser Ordnung beiträgt. Hier fand ein Wandel hinsichtlich des Umgangs mit jener heiligen, zerbrechlichen Ordnung statt, denn aus dem Aufrechterhalten und Beitragen wurde das Gegenteil. Die Ordnung wurde selbstständig und übermächtig. Das Individuum fühlt sich nun befriedigt, wenn es die bestehenden Ordnungen stören und irritieren kann, da es darin eine Möglichkeit sieht, sich eine Position in ihr zu verschaffen. Unsicherheiten der kollektiven Ordnung auszunutzen und diese aufzuzeigen, ist nun heilbringend: Glauben als „Liebhaben“ wurde zu glauben unter Vorbehalt und Skepsis, mit der Option zur Negation. Jede Form von übergeordneter, z. B. staatlicher Ordnung erzeugt Ekel – solange man nicht Teil dieser Ordnung ist und mitbestimmen kann, umso schlimmer wird er, wenn man zur Teilhabe an der Ordnung und zu Passivität gezwungen ist. Durch Institutionen des Wohlfahrtsstaates wird teilweise das Paradies dargeboten, doch anstatt für diese paradiesischen Zustände Dank zu zeigen, wird der die Hand reichende „Staat“ jener, der das Paradies verunmöglicht, weil er zu viel Freiheit schenkt. Über etwas, das man nicht versteht wundert man sich nicht mehr, sondern man regt sich darüber auf, weil man weiß, das Menschen dafür verantwortlich sind und keine übernatürliche Kraft dahinter steht. Es wird sich nicht gewundert, dass alles so gut, schnell und reibungslos funktioniert, sondern es wird darauf gelauert, dass etwas schief geht, denn dann hat man die Chance, sich aufzuregen.

Objekt des Glaubens ist also, ganz tief herunter gebrochen, Ordnung und zwar genau: eine Ordnung der Welt. Diese Ordnung muss nicht empirisch sein, es reicht, wenn sie durch geistige Inhalte, also auch als Illusion lebt. Wer glaubt, hat also eine gemeinsame Ordnung lieb und ebenso alle Personen, die diese Ordnung teilen. In der Gegenwart merken die Menschen (das Individuum, die Wissenschaft), dass es unmöglich ist, die Welt zu ordnen – sowohl in sozialer als auch in geistiger Hinsicht. Und sie merken, dass es albern ist, eine Ordnung im Kopf durch die Welt zu tragen, die nirgends einen empirischen Ansatz findet. Die wachsende Ordnungsunmöglichkeit der Welt dringt bis in den eigenen Alltag hinein, in Beruf und Freizeit. Nicht mehr als das „cogito ergo sum“ und jene Ordnungen, die durch eindeutige Abhängigkeiten aufrecht erhalten werden, bleiben im subjektiven Chaos bestehen. Man kann die Welt also ordnen, indem man sie von sich abhängig macht – man muss ihr jedoch einen Grund dafür geben, dass sie sich von einem abhängig macht, und zwar durch große Mengen von Kapital (Soziales, Kulturelles, Ökonomisches). Dieses wiederum kann man „nur“ anhäufen, wenn man Leistungen erbringt. Doch man hat ja eigentlich keinen Grund, Leistung zu erbringen, da keine legitime Ordnung sie fordert, geschweige denn ihre angemessene Entlohnung garantieren kann. Was bleibt also wirklich übrig, wenn man dies paradox empfindet? Die Existenz der eigenen Umstände. Aus dieser „nihilistischen“ Situation heraus suchen Menschen nun gelegentlich Punkte zur Anknüpfung an andere „existierende Umstände“. Eine weitere Möglichkeit mit dem Chaos umzugehen ist dessen Affirmation, die bis zur Anbetung reicht und hier ebenso als Glauben gelten soll und ein Paradigmenwechsel in der Geschichte des Glaubens darstellt. Wenn man die Welt als Chaos ansieht, so gewinnt sie völlig neue Qualitäten: Das, was nicht der eigenen Ordnung entspricht, wird nicht ausgesondert, sondern dies, was am wenigsten der eigenen Ordnung entspricht, also das größte subjektive Chaos bedeutet, das ist Ansatzpunkt der „religiösen“ Bewunderung.
Es stellen sich nun drei Typen von Glauben heraus, die den Glauben in der Gegenwart repräsentieren: Zwei Typen, die Ordnung suchen, durch eigene Leistung oder durch andere Existenzen und ein Typ, der das Chaos sucht.

Subjekt des Glaubens, also das, was glaubt, ist ebenfalls starkem Wandel unterliegend. Man kann behaupten, dass sich die Perspektive des Menschen auf den Menschen von einem innen und außen geistig-ideell zu beschreibenden Wesen zu einem innen und außen materiell zu beschreibenden Wesen umgeschlagen hat – und eben auch die Möglichkeit des Erreichens von Ordnung ist umgeschlagen, von einer geistig-ideellen Ordnung zu einer materiellen Ordnung. Ordnung ist zum Beispiel im individuellen Körper einfacher zu erreichen als im kollektiven Körper, der Gemeinschaft – es verschiebt sich die kollektive Suche nach Ordnung aus der Gemeinschaft in das Individuum. Das Seelenheil wird durch Fitness und Gesundheit ersetzt, der Gottesdienst durch Training des Körpers und gesunde Ernährung.


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