Für Roosevelt kämpfte er im Zweiten Weltkrieg, für Obama sieht er wenig Spielraum: 13 US-Präsidenten hat Kurt Shell inzwischen regieren sehen – teilweise als amerikanischer Bürger, teilweise als Politikwissenschaftler, stets als interessierter Beobachter.
von Frank
Mit seinen fast 93 Jahren ist Kurt Shell der Doyen der politikwissenschaftlichen Amerikastudien in Deutschland. Am Center for North American Studies in Frankfurt hat er sie wesentlich mit aufgebaut. Ich treffe ihn im Vorfeld eines Vortrags über „seine Präsidenten“, also jene 13 Amtsinhaber, die er seit seiner Übersiedlung in die USA 1940 miterlebt hat. Sehr bald kommen wir auf den aktuellen Präsidenten zu sprechen und Shell outet sich als „großer Obama-Fan“.
unique: Auch aus fachlicher Sicht?
Shell: Nein, das kann ich nicht sagen. Er erinnert mich ein bisschen – auch wenn der Vergleich hinkt – an Jimmy Carter. Ich hatte mir bei Obama erhofft, er könnte auch als Präsident sein enormes Charisma nutzen, das ihn als Wahlkämpfer ausgezeichnet hat, um etwas Größeres zu verkörpern. Aber ich glaube, dass er das nicht tut, weil er als Präsident zu wenig Wärme ausstrahlt.
Nachhaltig beeindruckt hat Shell ein anderes Beispiel präsidialer Ausstrahlungskraft, das er unmittelbar nach seiner Immigration in die USA erlebt hat: Franklin D. Roosevelt steuerte das Land durch die Wirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg, wurde als einziger US-Präsident viermal gewählt. Unter ihm als Oberbefehlshaber diente der junge Kurt Shell als Freiwilliger in der US-Armee:
Shell: Roosevelt hat nicht nur viel geleistet und zu leisten gehabt, sondern besaß auch eine ungeheuere Ausstrahlungskraft. Für viele wurde er zu einer Person, ohne die sie sich ein Leben gar nicht mehr vorstellen konnten, weil man so an sie gewöhnt war! An dem Tag, als ich erfuhr, dass Roosevelt gestorben war – ich war zu dieser Zeit Soldat der amerikanischen Armee in Italien –, empfand ich plötzlich eine große Leere. Als wäre man vaterlos geworden.
Geboren in Wien, seit Ende der 1960er-Jahre in Deutschland lebend, antwortet Shell auf die Frage nach seiner Heimat, er sei ein „rootless cosmopolitan“ – typisch während des Gesprächs ist dieser fließende Wechsel zwischen Deutsch und Englisch.
Als er 1920 als Sohn jüdischer Eltern zur Welt kommt, werden die USA noch von Woodrow Wilson regiert – und sehen sich keineswegs als Nation mit dauerhaften globalen Verpflichtungen. Nach Jahrzehnten der Weltmachtstellung wird nun immer häufiger davon gesprochen, die USA befänden sich auf dem absteigenden Ast. Der Politikwissenschaftler nickt.
Shell: Auch ich glaube, dass zwar nicht die Stellung der USA als Supermacht, aber als DIE einflussreichste Nation der Welt relativiert wird – durch das Wachsen Chinas und Europas Vergemeinschaftung. Amerikas Position ist weiterhin ungeheuer wichtig, aber nicht mehr so dominant in der Welt. Auch kulturell und militärisch. Die USA sind noch immer die stärkste Militärmacht, auch wenn das heute schwer zu definieren ist. Die Armeen Russlands und Chinas sind größer als die der USA.
Hat sich auch in der Wissenschaft hierzulande die Betrachtung der USA verändert?
Shell: Die Amerikastudien in Deutschland haben sich insofern verändert, dass sie früher als eine Art Demokratiestudien definiert wurden; heute ist Amerika im Wesentlichen eine area study unter vielen – in ihrer Bedeutung und Wertschätzung auch abnehmend, fürchte ich.
Shell ist Anhänger der Demokraten, daraus macht er kein Geheimnis. Nie habe er einen guten Grund dafür gesehen, eine andere Partei zu unterstützen.
Shell: Von Anfang an, als ich 1940 nach Amerika kam, bis 1967, als ich zurück nach Europa ging – und wenn ich sie beobachte bis heute – vertritt die Demokratische Partei diejenigen Positionen, die ich auch vertreten würde. Sie war stets viel offener für Ethnien aus verschiedenen Ländern – und für mich als Juden. Aber nicht nur das: Ich bin auch ein überzeugter Anhänger des Wohlfahrtsstaates!
Nicht zuletzt das ist es, was Shell zu einem Fan von Präsident Lyndon B. Johnson macht, der in den 1960er Jahren nicht nur die schwarze Bürgerrechtsbewegung, sondern unter dem Motto der „Great Society“ auch den amerikanischen Sozialstaat wesentlich vorangebracht hatte. Erst mit zeitlichem Abstand, so Shell, würde man häufig die Größe der Präsidenten erfassen.
Shell: Man erkennt im Rückblick vielleicht stärker, welche Probleme sie zu lösen und wie schwer sie es hatten. Nehmen Sie etwa Harry Truman: Alle hatten 1945 wahnsinnige Angst gehabt, als dieser unerfahrene Provinzler plötzlich den großen Roosevelt ersetzen musste. Doch Truman hat alle überrascht mit seiner Tatkraft und dem Geschick – vor allem in der Außenpolitik – fähige Leute um sich zu sammeln. Er hat immer wieder, wie ich finde, sehr viel Mut bewiesen. Die letzten Jahre seiner Präsidentschaft aber waren, wegen des Korea-Krieges, Jahre des Abstiegs.
Der Truman-Biograf weiß, dass der 34. Präsident sowohl bei Zeitgenossen als auch späteren Betrachtern (Stichwort: Hiroshima) nicht unumstritten war. In dieser Hinsicht ähnelt Harry Truman dem großen Helden der Tea Party-Bewegung: Ronald Reagan. Für den erzkonservativen Republikaner hat Shell weniger warme Worte übrig.
Shell: Ich habe ja, als eher linksliberaler Demokrat, Reagan sehr negativ betrachtet. Die 80er-Jahre waren sehr prosperierend, aber insgesamt würde ich nach wie vor sagen, dass er in seinem ganzen outlook und damit, wohin er Amerika in den 80er-Jahren lenken wollte, in die falsche Richtung ging. Aber er war eben der „Great Communicator“; er hatte die populistischen Fähigkeiten, den Leuten durch Charme und Rhetorik entgegen zu kommen und ihnen das zu sagen, was sie hören wollten. Auch die Senkung der Steuern war ja sehr populär.
Zeigt sich in dieser Kommunikationsstrategie nicht auch ein anderes Demokratieverständnis im Vergleich zu Deutschland?
Shell: Ja, durchaus. Ich glaube, dass in den USA der Politiker dem Volk sehr viel mehr aufs Maul schaut als in Deutschland. Hier erwartet man eher, dass er mehr Staatsmann ist und rational die Probleme reflektiert und dann versucht, sie zu lösen. Ein Grund dafür mag in der Tradition eines Obrigkeitsstaates in Deutschland liegen, der über Jahrhunderte von einer Bürokratie und Elite geleitet wurde, die die Entscheidungen traf. In der Gründung der USA war hingegen die Erwartung angelegt, dass der Politiker sehr volksnah sein sollte.
In diesem Verständnis ist ‚Populismus‘ also eher etwas Positives?
Shell: Ich habe Populismus – im amerikanischen Sinne – nie negativ betrachtet. In Deutschland ist es üblich, von Populismus zu sprechen, wenn man den billigen Forderungen aus dem Volk nachgibt, ohne Elitenintelligenz. Für mich ist Populismus Demokratie im eigentlichen Sinne des Wortes – nicht als indirekte, sondern direkte Demokratie, nämlich das zu tun, was die Menschen von einem wollen. Das mag – wenn man darüber nachdenkt – nicht unbedingt das Richtige sein, aber es ist eine response zu dem, was von einem erwartet wird.
Beim Thema Erwartungen an Politiker kommt unser Gespräch auf den aktuellen Präsidenten zurück, den einige Beobachter schon als gescheitert ansehen. Die Schuld daran, dass Obama viele Vorhaben nicht umsetzen konnte und kann, sieht der Politikwissenschaftler aber größtenteils beim politischen Gegner:
Shell: Ich habe eine ungeheuere Wut im Bauch gegen die Republikaner. Die sind heute, seit sie zu einem Großteil von der Tea Party dominiert werden, im Kongress auf einem verrückten Kurs gegen alles zu opponieren, das in irgendeiner Weise mit Staatstätigkeit zu tun hat! In der heutigen Auseinandersetzung machen ihre Obstruktionen Amerika beinahe ungovernable. Das politische System der USA ist von Beginn an darauf angelegt, Regierung so schwierig wie möglich zu machen. Es ist mit so vielen Veto-Punkten versehen, dass es nur mit einem gewissen Maß an Kompromissbereitschaft in Bewegung zu halten ist. So kann eine Gruppe wie die heutigen Republikaner das System total blockieren, vor allem durch die Benutzung des Filibuster als alltägliches Instrument im Gesetzgebungsprozess.
Und Obama hat nicht die 60 Stimmen im Senat, die er braucht, um die Blockade zu überwinden…
Shell: Ich sehe das als die wirkliche, auch persönliche Tragödie von Obama. Er wird wohl als Präsident in die Geschichte eingehen, der sehr wenig zustande gebracht hat.
Zum Abschluss unserer Unterhaltung bleibt der Blick auf eine tiefe Spaltung der US-Politik – und die Frage an den erfahrenen Beobachter, was zu erwarten ist.
Shell: Auf absehbare Zeit wird sich daran wohl nichts ändern. Ich sehe nämlich nicht, dass die Republikaner ihre Position wesentlich ändern, außer in ganz wenigen Punkten. Man spricht ja davon, dass die immigration laws geändert werden sollen, denn die Republikaner haben gemerkt: Sie brauchen die hispanics, wenn sie in Zukunft Wahlen gewinnen wollen.
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