Im Jahre 70 n. Chr. wurde das jüdische Volk von den Römern aus Palästina vertrieben. Die folgenden 1900 Jahre verbrachten die Juden im Exil. In dieser Zeit waren sie in den meisten christlichen Ländern einer grausamen Unterdrückung ausgesetzt. Sie wurden vielfach erneut vertrieben oder massenhaft ermordet. Die friedlichste und sicherste Umgebung fanden sie während dieser Periode in den islamischen Ländern.
von Ender Cetin
Im Islam wurde Juden und Christen wurde immer erlaubt, ihrem eigenen Glauben und selbst ihren eigenen Gesetzen zu gehorchen, ohne dass Repressalien die Folge gewesen wären. Das System, in dem die Religionen frei nach ihrer Façon selig werden konnten, nannte man das Millet-System: Freiheit für alle Religionsgemeischaften. Sie mussten zwar eine bestimmte Steuer zahlen und durften nicht im Militär tätig werden, das aber war vielen Juden lieber, als in Europa unterdrückt und verfolgt zu werden. So wanderten z.B. die spanischen Juden im 15. Jahrhundert ins Osmanische Reich aus.
Vorher hatten Muslime, Juden und Christen in Spanien-Andalusien unter islamischer Herrschaft friedlich zusammengelebt. Es war eine Blütezeit für Wissenschaften, Kunst und Kultur. Viele Juden wanderten auch zur Zeit des Zweiten Weltkriegs aus, u.a. in die Türkei, die ihnen Asyl gewährte. So konnten sie sich in einer eigentlich fremden Gesellschaft entfalten.
Der Hauptgrund für diese Atmosphäre der Toleranz und Sicherheit liegt in der Moral des Qur’ans. Im Qur’an werden Juden und Christen als das „Völker des Buches“ bezeichnet. Muslimen wird geraten, freundliche Beziehungen zum Volk des Buches zu pflegen. Der Qur’an erlaubt muslimischen Männern, Frauen aus dem Volk des Buches zu heiraten. (Sure 5:5 -al-Ma’ida) Dies zeigt, dass verwandtschaftliche Beziehungen durch Verheiratung mit Muslimen und den Menschen aus dem Volk des Buches möglich sind, und dass man sich gegenseitig bei Gastmahlen beteiligen kann. Dies ist eine fundamentale Voraussetzung für ein gegenseitig akzeptiertes Zusammenleben in derselben sozialen Gemeinschaft.
Konsequenterweise sind Muslime für gutnachbarschaftliche Beziehungen mit Juden und Christen verantwortlich, wenn sie in derselben sozialen Gemeinschaft leben. In einem Land, in dem Muslime in der Mehrheit sind, ist das Volk des Buches den Muslimen anvertraut. Dafür zu sorgen, dass Mitglieder des Volks des Buches in Frieden und Sicherheit leben können und sie gegen jede Art von Gefahr zu verteidigen, ist eine religiöse Pflicht der Muslime. Es wird zum offenen Dialog mit den Juden und Christen aufgerufen. So heisst es:
Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn auf beste Art und Weise, außer mit jenen von ihnen, die unrecht handeln. Und sprecht: „Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt wurde und was zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist ein- und derselbe. Und Ihm sind wir ergeben.“ (Qur’an, 29:46)
Der Toleranz der Muslime gegenüber dem Volk des Buches manifestiert sich in der gesamten Geschichte des Islams. Über Jahrhunderte begegneten Muslime den Juden in Freundschaft, und Juden erwiderten diese Freundschaft. Der Faktor, der diese Freundschaft erheblich belastet, hat andere, nämlich politische Ursachen.
Hass sollte jedoch niemals zu einer Reaktion des Unrechts führen. Deshalb warnt Gott im Qur’an:
„Oh ihr, die ihr glaubt! Steht in Gerechtigkeit fest, wenn ihr vor Allah bezeugt. Der Hass gegen (bestimmte) Leute verführe euch nicht zu Ungerechtigkeit. Seid gerecht, das entspricht mehr der Gottesfurcht.“ (Qur’an 5:8)
Nichtsdestotrotz leben Juden in der islamischen Welt im Grossen und Ganzen immer noch friedlich mit Muslimen zusammen. Die meisten jüdischen Synagogen befinden sich z.B. im Iran. Juden genießen selbst in diesem recht konservativen islamischem Land große religiöse Freiheiten.
In Wahrheit sind das Volk des Buches und die Muslime also keine Feinde – tatsächlich sind sie Verbündete. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Welt überschwemmt wird von unmenschlichen Ideologien, müssen Christen, Juden und Muslime, die dieselben moralischen Werte verteidigen und an denselben Gott glauben, kooperieren.
Das Volk des Buches betreffend, fordert Gott von den Muslimen im Qur’an , sich auf ein gemeinsames Bekenntnis zu einigen:
Sprich: „Oh Leute der Schrift! Kommt herbei! Einigen wir uns darauf, dass wir Allah allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass die einen von uns die anderen nicht zu Herren neben Allah annehmen. (…)“ (Qur’an, 3:64)
Auch wenn im Qur’an das Volk der Israelis sehr oft kristisiert wird – wie übrigens auch in der Thora in den Büchern Moses –, differenziert der Qur’an und pauschalisiert nicht. So heisst es z.B.:
Und siehe, unter den Leuten der Schrift gibt es welche, die an Allah glauben und an das, was zu euch hinabgesandt wurde und was zu ihnen hinabgesandt wurde. Sie sind demütig vor Allah und verkaufen die Zeichen Allahs nicht für einen winzigen Preis Ihr Lohn ist bei ihrem Herrn; siehe, Allah ist schnell im Rechnen. (Qur’an, 3:199)
(…) Sie sind aber nicht alle gleich. Unter den Leuten der Schrift gibt es eine aufrechte Gemeinde, welche die Verse Allahs zur Zeit der Nacht liest und sich niederwirft. Diese glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und gebieten das Rechte und verbieten das Unrechte und wetteifern in guten Werken; und sie gehören zu den Rechtschaffenen. Und was sie an Gutem tun, es wird ihnen niemals bestritten; und Allah kennt die Gottesfürchtigen. (Qur’an, 3:113-115)
Siehe, die Gläubigen und die Juden und die Sabäer und die Christen – wer da glaubt an Allah und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut – keine Furcht soll über sie kommen, und sie sollen nicht traurig sein. (Qur’an, 5:69)
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Ender Cetin wurde am 8. Juli 1976 in Berlin geboren und arbeitet dort als Öffentlichkeitsreferent für die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB e.V.).
Bild: Der ehemalige iranische Präsident Mohammad Chātami zu Besuch in einer Teheraner Synagoge (Quelle: Teheran Jewish Committee).
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