Herrscher hofften auf seine Unterstützung, zahlreiche Entdecker machten sich auf die Suche nach seinem Reich und Geistliche fürchteten um ihre Stellung. Sein Ruf eilte ihm voraus – und doch ward er nie gesehen: Wie eine fiktive Person die Welt über Jahrhunderte in ihren Bann zog und warum man sich lange Zeit nicht sicher war, ob der König von Indien nicht vielleicht doch in Äthiopien zu finden ist.
von Ladyna
Inexistenz ist kein Hindernis, die Weltgeschichte über Generationen hinweg zu beeinflussen. Wenn genügend einflussreiche Menschen an eine fiktive Person glauben oder sie zumindest für ihre eigene Zwecke als nützlich erachten, kann sie ein historischer Einflussfaktor werden. Die Menschheit hat darüber hinaus vielleicht schon immer einen gewissen Durst nach guten Geschichten verspürt. So sind Mythen entstanden, denen eine Funktion als „ordnende Beschreibung“ der Welt zukommt. Sie sind gewissermaßen ein Bewältigungsmechanismus des vergleichsweise instinktarmen Wesens Mensch, das mit seinem Zustand des ‚in-die-Welt-geworfen-seins‘ hadert. Also haben Menschen diverse Götter verehrt, den Golem erdacht oder sich auf Stammvater Abraham berufen. Außerdem haben sie – wahrscheinlich eher aus Versehen als mit Vorsatz – einen geheimnisvollen König erfunden, der in einem Bett aus Saphir schläft und in dessen Reich der Phönix, sowie Einäugige wohnen: den Priesterkönig Johannes.
Wann genau diese kuriose Figur die Bühne der Weltgeschichte betrat, ist nicht sicher. Trotzdem hat ein Unbekannter in ihrem Namen 1165 einen Brief geschrieben, dessen Abschriften durch die Erfindung des Drucks bis in die Zeiten der Entdeckungsreisen in ganz Europa zirkulierten. Könige haben auf seinen Beistand gehofft. Entdecker sind aufgebrochen, sein geheimnisvolles Reich zu finden. Päpste fürchteten um ihren Alleinvertretungsanspruch, wollten sich aber auch mit ihm gegen den Islam verbünden. Seine Coolness hat ihn bis in heutige DC Comics getragen, auch wenn das muskelbepackte Wesen hier seine royale Vergangenheit hinter sich gelassen hat und nun nur noch als Eroberer auftreten darf.
Wahrscheinlich ist die Legende 1122 entstanden, als Berichte vom Besuch eines Patriarchen Johannes aus Indien in Rom für Furore sorgten, die behaupteten, durch sein Einflussgebiet würde der Paradiesfluss Phison fließen und der Apostel Thomas läge dort begraben. Auch wenn der Titel „Priesterkönig“ noch nicht verwendet wird, ist es wahrscheinlich, dass dieser Gesandte der Kirche des Ostens den Grundstein für die Legende legte. Für eine um ihren eigenen Einfluss bedachte Institution wie die römisch-katholische Kirche war das Auftreten eines christlichen Würdenträgers, der einer anderen Strömung angehörte, von enormer Bedeutung. Die erste schriftliche Erwähnung des Priesterkönigs findet sich in Otto von Freisings Weltchronik von 1146. Otto berichtet darin, wie ein syrischer Bischof dem Papst von einem Mann erzählt habe, der in der Doppelfunktion als König und Priester die Stadt Ecbatana (das heutige Hamadan) von den Muslimen erobert habe. Danach soll der Priesterkönig nach Jerusalem aufgebrochen sein, um das Heilige Land zu retten. Doch konnte er den Tigris nicht überqueren und war damit gezwungen, nach Indien zurückzukehren. Dieser sagenhafte Mann solle von den drei Weisen aus dem Morgenland höchstpersönlich abstammen.
Der bereits erwähnte gefälschte Brief an den Kaiser von Byzanz sorgte für eine schnelle Verbreitung der Legende im deutschsprachigen Raum. Dieser bestach durch die Schilderungen von Johannes fantastischem Reich, die vor Superlativen nur so strotzten: Vampire, Kleidung, die im Feuer gewaschen werde, Lepra-heilendes Wasser – der Brief konnte mit wichtigen Zutaten einer guten Fantasiegeschichte aufwarten. Zudem sicherte der Priesterkönig zu, „die Feinde des Kreuzes“ in Palästina zu erniedrigen. Damit passte der Brief perfekt in den Kontext der Kreuzzugspropaganda und bediente die Hoffnung vieler Europäer, Bündnispartner im Kampf gegen den Islam zu gewinnen. Die Möglichkeit, fiktive Personen zu instrumentalisieren, machte den Priesterkönig für viele Machthaber attraktiv. Dank der Legende konnte 1221 der Bischof von Acre mit guten Nachrichten vom eigentlich verheerenden Fünften Kreuzzug zurückkehren: König David von Indien, der Sohn oder Enkel des Priesterkönigs, habe seine Armeen mobilisiert.
Zwar hatte der Bischof von Acre Recht, wenn er dachte, dass ein großer König Persien erobert habe. Dieser König war jedoch weder Christ noch Inder. Sein Name war Dschingis Khan. Der mongolische Herrscher war gegenüber allen, die seine Macht anerkannten, sehr tolerant hinsichtlich ihrer religiösen Überzeugungen.Er war der erste ostasiatische Herrscher, der Geistliche aus allen drei Buchreligionen zu einem Symposium einlud, um mehr über ihren Glauben zu erfahren. Tatsächlich gab es an der Seidenstraße auch eine christliche Glaubensgemeinschaft, die Nestorianer, zu denen sich auch eine der Frauen des Herrschers bekannte. Dies könnte zum Mythos beigetragen haben, auch wenn die Christen nur geringen politischen Einfluss hatten.
Dank der sichereren Reisewege im neuen mongolischen Reich war es für Europäer nun möglich, eine nie gesehene neue Welt zu entdecken. Chronisten und Entdecker wie Marco Polo oder der Kreuzritter und Historiker Jean de Joinville stellten in ihren Reiseberichten auch Mutmaßungen über den Priesterkönig an, nahmen ihm jedoch den Fabelwesencharakter und stellten ihn als irdischen Monarchen dar. Zweifel angesichts der überaus langen Lebenszeit dieses Johannes schienen sie jedoch nicht zu plagen. Im Laufe der Jahrhunderte versuchten zahlreiche Expeditionen, das sagenhafte Reich in Asien und seinen fantastischen Monarchen zu finden. Viele blieben verschollen. Doch die Kombination aus einer unglaublichen Faszination der Europäer am kaum bekannten östlichen Teil der Welt, über den nur bruchstückhaft Informationen nach Europa drangen und tatsächlichen historischen Ereignissen, die falsch gedeutet wurden, befeuerte die Legende weiter. Gleichzeitig fanden sich auch Elemente von den Abenteuergeschichten wie Sindbad dem Seefahrers bei dem Priesterkönig wieder. Zwar hatte man von Anfang an den Priesterkönig als König von Indien angesehen. Allerdings war Indien aufgrund des fehlenden Wissens über den Verlauf des indischen Ozeans war ein eher vages Konzept. Insbesondere Äthiopien, ein starkes und christliches Königreich, war ein heißer Kandidat für den Sitz Indiens und damit des mythischen Königs. Als die Botschafter von Kaiser Zara Yaqob 1441 am Rat von Florenz teilnahmen, waren sie verwirrt, als die Prälaten des Rates darauf bestanden, ihren Monarchen als Priesterkönig anzusprechen. Auch wenn sie klarzustellen versuchten, dass es sich nicht um einen zulässigen Titel ihres Kaisers handelte, hielt das die Europäer nicht auf. Im 15. Jahrhundert griffen die Portugiesen den Mythos auf, um ihre Umsegelung Afrikas zu rechtfertigen: Man wollte den Einfluss des Islam in Afrika zurückzudrängen und strebte eine Allianz mit dem legendären Priesterkönig an. So wurden Pêro da Covilhã und Afonso de Paiva 1487 gleich mit einer Doppelmission beauftragt: Sie sollten sowohl den Seeweg nach Indien finden als auch Erkenntnisse über den Priesterkönig einholen. Die Legende verebbte erst im 17. Jahrhundert, als Akademiker wie Hiob Ludolf zeigen konnten, dass es keine Verbindung zwischen dem Priesterkönig und der äthiopischen Monarchie gab.
Die kuriose Episode vom Priesterkönig Johannes beweist vor allem eines: Wer Realität und Fiktion für ein Gegensatzpaar hält, vernachlässigt, dass zwischen den beiden ein vielfältiges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Mythen waren im frühen Mittelalter keine unzulängliche Alternativ-Welt, sondern Bestandteil der einzigen Welt. Erst im 13. Jahrhundert wuchs das Bewusstsein dafür, dass gezielt fiktionale Elemente in narrativen Handlungen eingesetzt werden können. Der Dualismus zwischen Geschichtsschreibung und Mystik ist ebenfalls eine Konstruktion, denn Chronisten können keine vollständige Objektivität gewährleisten. Überspitzt drückt es der amerikanische Historiker Hayden White so aus: Geschichtsschreibung glätte mit ihrer Strukturierung Ereignisse so sehr, dass sie Fiktion ähneln. Die Legende von Johannes dem Priesterkönig dreht den Spieß um: Sie zeigt, wie eine ausreichende Menge an Missverständnissen, Unwissen und Machtinteressen die perfekten Bausteine für ein Narrativ liefern können, dass seinerseits Geschichte schreibt.
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