Wählerschaft oder Kanzlerin, wer führte Deutschland wirklich während der Flüchtlingskrise, beim Atomausstieg und in Fragen des Klimaschutzes? Ein Essay über die unterschätzte Verantwortung des Wählers für Merkels Politik.
von Kai von Linden
Vorbei sind sie, die gut eineinhalb Jahrzehnte Merkel-Kanzlerschaft. Mit großem Zapfenstreich wurde die wohl mächtigste Frau der Welt aus ihrem Amt verabschiedet. Nun bricht die Zeit der Rückblicke, Erinnerungen und Biographien an. Pünktlich dazu taucht auch eine vermeintlich neue Erkenntnis in der journalistischen Landschaft auf, die erklärt, auf welche Art und Weise die anfangs vielfach unterschätzte Pastorentochter die Bundesrepublik über sechzehn Jahre hinweg regierte. Demnach kann man bei Merkels Führungsstil wohl weniger von der Ausübung als von der Verwaltung der Macht sprechen, wie der Philosoph Richard David Precht es formuliert. Stets stellte sich die Kanzlerin mit ihren politischen Entscheidungen in den Windschatten kurz zuvor ausgewerteter Meinungsumfragen. Die große Vision einer zukünftigen Bundesrepublik, für die sie Menschen begeistern würde, das war nicht ihres. Unangenehme, aber von der Mehrheit der Experten als vernünftig angesehene Entscheidungen wie bspw. Schröders Agenda 2010, die dem Anstieg der Arbeitslosigkeit Einhalt gebieten sollte: Nein, daran sollten sich andere die Finger verbrennen. Ein Profil entwickeln, ob als Konservative, Grüne oder Soziale: viel zu riskant. Jede Woche wurde von Neuem das Fähnchen gehisst und je nach Windrichtung änderte die deutsche Kanzlerin ihre Ansichten, ob zur Atomkraft, zur gleichgeschlechtlichen Ehe oder zur Flüchtlingskrise.
Erstaunlich ist, dass diese Erkenntnis erst im Nachgang der Merkeljahre durchsickert, denn schon 2014, vor rund acht Jahren berichtete der Spiegel unter dem Titel „Regieren nach Zahlen“, wie intensiv Merkel und ihr Team Umfragen in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Im Schnitt drei Umfragen pro Woche und ein Jahresbudget von zwei Millionen Euro allein für die Inauftraggabe von Umfragen, deren Ergebnisse allein der Kanzlerin zugänglich waren, verdeutlichen den Stellenwert der Umfragen im Kanzleramt.
Von nun an musste als offensichtlich gelten, dass man Merkels politische Richtungsentscheidungen in weiten Teilen von ihrer Person abkoppeln kann und auf den Volkswillen, gemessen in Meinungsumfragen, zurückführen muss. Diese Erkenntnis ging unter und so wurde noch Jahre später über Merkels Prägung durch das pastorale Elternhaus, ihr vermeintlich großes Herz für Geflüchtete und ihre konservative Seele, die sich über die Jahre sozialen Ideen geöffnet habe, fabuliert. Beispielhaft dafür, eine der zuletzt erschienenen Merkel-Biographien. Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld interpretiert in „Die Kanzlerin“ (Rowohlt), dass die Begegnung mit dem libanesischen Mädchen Reem, dass 2015 im Bürgerdialog in Tränen ausbricht, Merkel zu einer liberaleren Flüchtlingspolitik und dem geflügelten „Wir schaffen das!“ bewegte.
Nur allmählich scheint die Erkenntnis zu Journalisten und Politikverstehern durchzudringen, dass, wer Merkels Positionen beschreibt, tatsächlich oftmals einen Blick in den Spiegel wirft und dort sich selbst sieht. Sofern man sich selbst zur potentiellen CDU-Wählerschaft von Rechts bis Mitte Links zählt. Denn diese Wählerklientel versuchte Merkel mit ihren Positionen zu repräsentieren, um sich deren Gunst für die anstehende Wahl zu sichern.
Nicht Merkel zweifelte nach dem Erdbeben im japanischen Fukushima an der Atomkraft und befürwortete einen Ausstieg aus der Kernenergie, ihre Wähler waren es. Nicht Merkel tat sich schwer mit der Ehe für alle, die Klientel Merkels tat sich schwer und war darüber einigermaßen gespalten. Während in der Bevölkerung etwa drei Viertel dem positiv gegenüberstanden, hatte sich in der CDU-Wählerschaft um das Jahr 2017 erstmals eine schwache Mehrheit entwickelt, die sich befürwortend aussprach. So erklärt sich das Brigitte-Interview Mitte 2017, in dem Merkel auf eine Frage aus dem Publikum zur „Homoehe“ erklärte, dass sie eine Abstimmung dazu im Bundestag zur Gewissensentscheidung erklären wolle. Sie brachte damit den Stein ins Rollen, gleichzeitig stimmte sie aber selbst dagegen. „Für mich ist die Ehe im Grundgesetz die Ehe zwischen Mann und Frau“, erklärte sie und bediente damit den immer noch beträchtlichen Teil ihrer Klientel, der die gleichgeschlechtliche Ehe kritisch sah.
Nicht Merkel hatte ein Herz für Geflüchtete, ihre Wähler hatten es. Die „Öffnung“ der Grenze war Wählerwille und Merkel zog es stets vor auf diesen zu reagieren, statt nach eigener Überzeugung zu agieren. Geschickt fädelte Merkel eine Schließung der Balkanroute über Erdogan und die Türkei ein und spiegelte damit wieder einmal nur den Wähler wider, der nach beispielloser anfänglicher Willkommenskultur nun doch mehr und mehr über die Flüchtlingszahlen erschrak, sich ungern aber selber in der Rolle des Befürworters für Grenzzäune und -kontrollen im behüteten Westeuropa sehen wollte. So lag Merkels Clou ganz im Sinne des Wählers, die Problematik für Milliardenbeträge in die Hände der Türken zu legen, dass sich diese doch fernab des heimeligen Westeuropas die Hände schmutzig machen sollten. Das Outsourcing der unangenehmen und schmutzigen Seiten der Abschottung der „First World“ gegen Flüchtlinge, war nicht Merkels Wille, es war der Wille der Wähler.
Wie paradox, dass man daraufhin zumeist in den neuen Bundesländern über Jahre hinweg mit „Merkel muss weg“-Sprechchören die bloße Verwalterin aus dem Haus jagen wollte, wo sie doch nur die Wünsche ihrer Wähler in Politik umsetzte. Bei genauerer Betrachtung rebellierten die Gegner Merkels vielmehr gegen die zahlenmäßig überlegene westdeutsche potentielle Wählerschaft Merkels. Denn diese hatten Merkels Kurs in der Flüchtlingskrise 2015 im Wesentlichen zu verantworten. Nun, da die Verwalterin Merkel das Haus verlässt, mag mancher Merkelkritiker jubeln, ohne zu erkennen, dass Merkel oftmals nur ihr Fähnchen in den Wind gehängt hat, der Wind aber auch nach ihrem Abgang wehen wird wie zuvor. Ein Gedankenspiel mag die Rolle Angela Merkels in der Flüchtlingskrise verdeutlichen: Welche Entscheidungen hätte Merkel wohl getroffen, wenn die Verhältnisse umgekehrt gewesen wären? Wenn Ostdeutschland im Jahr 2015 mit 70 Millionen Einwohnern die Majorität gestellt hätte und Westdeutschland mit 13 Millionen Einwohnern in der Minderheit gewesen wäre? Dann hätte der Wind wohl aus anderer Richtung geblasen, Merkels Fähnchen darin flatternd.
Diese Einschätzung scheint Bernd Ulrich nicht zu teilen, als er seinen Merkel-Rückblick („Kann man an der Macht ein guter Mensch sein?/Das Politikteil: Merkels Kanzlerinnenschaft wendet sich ins Tragische“) im Zeit-Politikpodcast bespricht. Der als „beste[r] Merkelkenner“ vorgestellte stellv. Chefredakteur der Zeit hält der Ex-Kanzlerin zugute, dass sie aus moralischen Gründen niemals versucht hätte, Wählerschaft am rechten Rand zu integrieren.
Vor dem Hintergrund der Anpassungsfähigkeit der Kanzlerin a. D. an das Meinungsbild der Wähler ist das nur schwer vorstellbar. Die Umfrageergebnisse werden eine Orientierung nach Rechtsaußen schlichtweg nie von ihr verlangt haben.
„Merkel muss weg“ – Ursprung in westdeutscher Kulturdominanz
Während das schlechte Gewissen der DDR-Bürger gegenüber der eigenen Geschichte durch den sich als antifaschistisch verstehenden Staat getilgt werden konnte, fand in der BRD spätestens seit den Studentenprotesten der 1960er Jahre eine eingehendere selbstkritische Aufarbeitung statt. Die Konsequenz aus dieser unterschiedlichen Sicht auf die Geschichte kann am Beispiel der Flüchtlingskrise wie unter einem Brennglas verdeutlicht werden: Der westdeutsche Ansatz führte zu einer in Europa wohl einzigartigen Sensibilisierung hinsichtlich Fremdenfeindlichkeit; der ostdeutsche hingegen erlaubte einen ‚unbeschwerteren‘ Diskurs über Obergrenzen und Grenzkontrollen.
Unverständnis entstand für die Willkommenskultur der Kanzlerin. Einer Kanzlerin, die ihre Wählerklientel zahlenmäßig überwiegend im Westen wusste und daher eine westdeutsche Kultur repräsentierte.
Unverständnis entstand im Westen für die als kaltherzig, wenn nicht fremdenfeindlich empfundenen Forderungen nach Abschottung und Abschiebung. Ein deutsch-deutscher Kulturunterschied war nach langem Brodeln unter der Kruste gleich einem Vulkan zu einem offenen Konflikt ausgebrochen. Eine neue Partei trat ins Parlament ein, die Wahl aber gewann natürlich die Kanzlerin, hatte sie doch auf die Mehrheitsmeinung ihrer Klientel gesetzt.
Viel zu oft verirren sich politische Beobachter in einer Analyse, die von Merkels Persönlichkeit auf ihre politischen Entscheidungen schließt. Die betriebene Umfrage-Maschinerie, die sie unterhält, wird dabei sträflich ignoriert. Das Bild der Staatenlenkerin, die ihre Entscheidungen einsam und zurückgezogen mit einer Vision für das Land fällt, ist eine leider immer noch gern bemühte Legende.
Nicht Merkel war die passive, anti-rhetorische, langweilige, Debatten ausweichende, klare Positionen umschiffende Kanzlerin, wir machten sie zu ihr, indem wir ihr alles andere unter Androhung des Stimmentzugs verboten.
Noch nie war der wählende Bürger stärker in der Verantwortung, noch nie war die Demokratie direkter. Noch nie war Kritik an der Person der Kanzlerin oberflächlicher, da ihre Positionen doch nur ein Spiegelbild ihrer Wähler sind. Eine Kanzlerin, die mit flammenden Reden mitreißt, eine ehrliche und starke Meinung auch gegen Kritik verteidigt und mit einem Traum für ein besseres Deutschland antritt, dessen Verwirklichung sie sich zum Ziel setzt. Gerne! Doch der Wähler entscheidet sich allerdings regelmäßig dagegen.
Der mittlerweile vereidigte Bundeskanzler Olaf Scholz wäre nicht so weit gekommen in der Politik, wenn sein Willen zur Macht nicht ebenso stark ausgeprägt wäre, wie der seiner Vorgängerin, weshalb man davon ausgehen darf, dass er sich des erfolgreichen „Regierens nach Zahlen“ ebenso bedienen wird. Der Unterschied wird sein, dass Scholz, im Gegensatz zu Merkel, für die Sicherung seiner Wiederwahl auf eine SPD-Wählerklientel von Links bis Mitte rechts bauen wird. Seine Person wird allzu bald zum Spiegelbild seiner Wählerschaft werden.
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