Die Gewalt der Einheit

Die Initiator:innen der antifaschistischen Dokumentation zweiteroktober90.de arbeiten gegen das kollektive Vergessen der Nazi-Gewalttaten vom 2. auf den 3. Oktober 1990 und zeigen deutlich das Versagen des Staates und der Länder diesbezüglich auf. Dass ein solches Verbrechen inmitten von Jena stattfand, ist kaum jemandem bewusst.

von Konstantin Behrends, Julian Kusebauch, Laura Peter, Thomas Wicher

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vom 2. zum 3. Oktober 1990 ging mit einer Welle massiver, teils pogromartiger Angriffe von Neonazis auf Linke, Migrant:innen und schwarze Menschen einher. Der Schwerpunkt der Gewalt lag auf dem Gebiet der nun ehemaligen DDR, wo jeweils Dutzende bis Hunderte von Neonazis über Stunden Häuser belagerten und teils sogar anzündeten. In den Folgejahren wurde kaum an diese Ereignisse erinnert und auch ihr Gesamtausmaß blieb unerkannt. Erst 30 Jahre später konnten wir mit unserer Recherche und Online-Dokumentation ein Bewusstsein für diese Seite der deutschen Einheit schaffen.

Die Dokumentation zweiteroktober90.de

Durch Gespräche mit Bekannten, die 1989/90 in Jena, Weimar und Erfurt in der Hausbesetzer- und autonomen Szene aktiv waren, sind wir darauf aufmerksam geworden, dass es in der Einheitsnacht in all diesen Städten Angriffe auf die besetzen Häuser gab. Nach einer anfänglichen Recherche haben wir herausgefunden, dass diese Seite der Vereinigung nicht einmal der antifaschistischen Bewegung selbst in Erinnerung geblieben ist, geschweige denn einer breiteren Öffentlichkeit.

Daraufhin haben wir Interviews mit Zeitzeugen geführt, in stundenlanger Archivarbeit Tageszeitungen vom Oktober 1990 gesichtet und antifaschistische, zivilgesellschaftliche und staatliche Literatur zurate gezogen. Auf Grundlage unserer Rechercheergebnisse haben wir die Online-Dokumentation zweiteroktober90.de gestaltet und Ende September 2020 kurz vor dem 30. Jahrestag der Vereinigung und der Neonazi-Angriffe veröffentlicht.

Eine Welle der Gewalt am Vorabend des Einheitstages

Die Zusammenfassung unserer Ergebnisse zeugt von einer Welle der Gewalt erschreckenden Ausmaßes. Wir konnten für den Abend des 2. Oktobers und den 3. Oktober 1990 Angriffe von Neonazis auf Linke, Migrant:innen und schwarze Menschen und ähnlichen Vorfällen in 30 Städten in Ost- und Westdeutschland sowie der Schweiz ermitteln. Daran waren unmittelbar mindestens 1.100 Neonazis beteiligt.

Der Schwerpunkt dieser Gewaltwelle lag in Ostdeutschland: In Zerbst zündeten über 200 Neonazis das besetzte Haus an und ermordeten beinahe 17 Besetzer:innen; in Weimar griffen über 150 Neonazis mit Molotow-Cocktails das besetzte Haus an; in Leipzig randalierten 150 Neonazis in der Innenstadt und griffen ein Kulturzentrum an; in Eisenach griff ein Mob hessischer und thüringischer Neonazis mit Unterstützung der Anwohner:innen das Wohnheim der mosambikanischen Vertragsarbeiter:innen in Eisenach-Nord an – um nur eine Auswahl größerer Vorfälle zu erwähnen.

Aber auch in Westdeutschland kam es zu Aktionen, inklusive Terroranschlägen: In Bonn wurde ein Brandanschlag auf das Stadthaus verübt und in Winterthur in der deutschsprachigen Schweiz warfen drei Neonazis eine Handgranate in die vermutete Wohnung eines antifaschistischen Journalisten. Die Neonazis waren bei den Angriffen mit Flaschen, Pflastersteinen, schweren Schrauben, Holzknüppeln, Baseballschlägern, Messern, Schreckschusspistolen, Pistolen mit Reizgas, Feuerwerkskörpern, Kanistern, Fackeln, Molotow-Cocktails schwer bewaffnet und nahmen den Tod ihrer Opfer billigend in Kauf.

Der Angriff auf das besetzte Haus in Jena – staatlicher Rückzug mit Ankündigung

Für viele Städte lässt sich aus Zeitungsartikeln und Interviews rekonstruieren, dass die Angriffe vom 2. Oktober 1990 schon im Vorfeld angekündigt worden waren. Alle beteiligten Parteien wussten davon: die Linken, Migrant:innen, schwarze Menschen und auch die staatlichen Behörden einschließlich der Polizei. Auch die Bewohneri:innen des besetzten Haus in der Karl-Liebknecht-Straße 58 wußten von den kommenden Angriff am 2. Oktober Statt ausreichend Schutz zu organisieren, rieten hier die Behörden den Besetzer:innen, ihr Haus zu verlassen, „da Magistrat und Polizei erneut Gewalttaten befürchteten.“, wie in der Thüringer Landeszeitung Ende Oktober 1990 zu lesen war.

Das besetzte Haus in Jena-Ost, genannt KL58, war von Februar bis Oktober 1990 besetzt und war Ort des Autonomen Jugendzentrums. Die KL58 wurde so schnell zur Zielscheibe von Neonazi-Angriffen: Am 20. April 1990 feierten circa 100 Neonazis sowie Altnazis aus Jena den Geburtstag Hitlers in einer Kneipe am Birnstiel. Etwa 40 von ihnen zogen in Richtung des besetzten Hauses in Jena-Ost. Allerdings war die Polizei hier schneller und nahm an einer Straßensperre zu Beginn der Karl-Liebknecht-Straße den Großteil von ihnen fest. Am Himmelfahrts-Tag im Mai 1990 überfiel dann eine Gruppe von circa 25 Neonazis das Haus, zerstörte einen Teil der Einrichtung und machte eine Hetzjagd auf einen Besucher, der aus der KL58 heraus die Angreifer fotografiert hatte.

Wir wussten, dass wir nicht die ganze Fläche verteidigen können“

Auch in Kenntnis dieser Angriffe machten die Behörden in Jena also deutlich, dass sie bei Angriffen um den 2./ und 3. Oktober 1990 nicht einschreiten würden. Ähnliche öffentliche Erklärungen finden sich zudem in anderen Städten. Diese Meldungen hatten dabei eine doppelte Signalwirkung: Den Neonazis wurde grünes Licht gegeben; sie konnten davon ausgehen, dass sie weitgehend ungestört und weitgehend straffrei handeln konnten. Den potentiellen Opfern der Neonazis wurde außerdem klar gemacht, dass sie sich um ihren Schutz selbst bemühen mussten.

Vor diesem Hintergrund bereiteten sich die Besetzer:innen in Jena auf den 2. Oktober vor und entschieden sich, ihr Haus bestmöglich zu verbarrikadieren und sich dem Schutz eines anderen besetzten Hauses, des Kassablanca – damals noch im Villengang 2a – anzuschließen. „Wir wussten, dass wir nicht die ganze Fläche verteidigen können“, so einer der Bewohner des Hauses in einem Interview 2020. Das besetzte Haus in der Karl-Liebknecht-Straße wurde am Abend des 2. Oktobers 1990 ohne behördlichen Schutz und trotz weitgehender Versuche der Selbstverteidigung zum Ziel zerstörerische Angriffe. Die Angreifer drangen in das Haus ein und verwüsteten es. In der TLZ hieß es dazu drei Wochen später: „Drinnen sieht es furchtbar aus. Zerschlagene Möbel, zerstörte Treppengeländer, ein Wust von durcheinandergeworfenen Kleidungsstücken, umherliegende Bücher, Steine, Scherben – nichts geht mehr in diesem Haus, das eigentlich einmal eine Stätte der Kommunikation werden sollte und in Ansätzen auch war.“ Nach der Verwüstung durch die Neonazis war das Haus unbewohnbar und die KL58 wurde aufgegeben.

Insgesamt nahmen Presse und Öffentlichkeit die Angriffe vom 2. Oktober nicht ernst. Im Gegensatz zum zitierten TLZ-Artikel waren die Angriffe der Neonazis den allermeisten Zeitungen gerade eine Randnotiz wert. Nur in wenigen Fällen scheint die Neonazi-Gewalt für öffentliche Diskussion gesorgt zu haben. Das Ausbleiben einer angemessenen medialen, öffentlichen und politischen Reaktion auf die massive Neonazi-Gewalt vom 2. Oktober 1990 führte dazu, dass die Opfer der Angriffe mit diesen Erfahrungen allein gelassen wurden und diese Erfahrung nicht in das öffentliche Bewusstsein und die öffentliche Erinnerung aufgenommen wurde. 30 Jahre später konnten wir mit unserer Recherche diese Erfahrungen zutage fördern und zumindest in Ansätzen eine öffentliche Diskussion anregen.

Die Angriffe vom 2. Oktober waren der vorläufige Höhepunkt in der Eskalation der Neonazi-Gewalt. Das vorhandene Potenzial rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hatte sich in Ost und West schon vor der Vereinigung in Angriffen, Hetzjagden, Pogromen, Anschlägen und Morden gezeigt. Mit der Vereinigung wurde es vor allem in Ostdeutschland vollends freigesetzt. Die Neonazi-Gewalt wurde nun zum Alltag und es kam immer wieder auch zu größeren Angriffen mit Hunderten von Neonazis. Am 2. Oktober haben sie dann in mehreren Städten gleichzeitig unter teils pogromartigen Bedingungen Häuser und Wohnheime angegriffen. Diese Entwicklung setzte sich mit der Zunahme rechter Morde ab der Vereinigung fort und mündete schließlich in den Pogromen der Jahre 1991 und 1992. Diese unterschieden sich von den Angriffen des 2. Oktober 1990 insofern, dass sich auch Hunderte von Anwohner:innen an den Angriffen der Neonazis beteiligten und dass sich die Presse aktiv einbrachte, die Pogrome begleitete beziehungsweise inszenierte und so beförderte.


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