„Die erfolgreichste Utopie der Weltgeschichte ist der liberale Rechtsstaat!“

von Frank

Der Jenaer Politikwissenschaftler Michael Dreyer zur Bedeutung gesellschaftlicher Wunschbilder

Prof. Dr. Michael Dreyer ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der FSU Jena. Seit dem Jahre 2005 vertritt er dort außerdem den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte. Zuvor war er mehrere Jahre als wissenschaftlicher Assistent an verschiedenen Universitäten, u.a. in Jena und Mainz, tätig.

UNIQUE: Herr Dreyer, besonders in Zeiten der Krise träumen die Menschen von einer gerechteren und harmonischeren Gesellschaft. Was ist es, das die Menschen solchen Wunschbildern nachhängen lässt?
Dreyer: Im Grunde genau das, was Sie gerade gesagt haben: Dass es eine Zeit der Krise ist und dass einige Menschen mit den Mitteln, welche ihnen die jeweilige Gesellschaftsordnung bietet, keine Chance sehen, zu einer besseren Gesellschaft zu gelangen. Das ist dann eigentlich immer eine Hoch-Zeit für Utopien, wenn man außerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung denkt und die Ideale der Gerechtigkeit nur verwirklicht sieht in einer Gesellschaft, die ganz neu geschaffen werden müsste, die es noch nicht gibt.

Der Humanist und Staatsmann Thomas Morus schildert in seinem Werk „Utopia“ aus dem Jahre 1516 eine ideale Gesellschaft und gab damit wohl den Anstoß für eine Art „Genre“ der Sozialutopien. Können Sie kurz schildern, was den Gesellschaftsentwurf von Morus kennzeichnet?
Darüber streiten sich die Gelehrten seit Jahrhunderten. Es gibt viele verschiedene Interpretationsrichtungen bei Thomas Morus, u.a. auch die, dass das Ganze als Satire und damit überhaupt nicht ernst gemeint war. Dann gibt es eine sozialistische Interpretationslinie, die sehr stark auf die Gleichbehandlung und Gleichberechtigung, die Abschaffung des Geldes, die Gütergemeinschaft und ähnliche Aspekte bei Morus abhebt – allesamt übrigens frühchristliche Anklänge. Es ist ein Gegenbild zur frühkapitalistischen Gesellschaft in England, die in Morus’ Utopie abgelöst wird durch eine Gesellschaft, in der Geld keinerlei Rolle spielt, in der Gold lediglich als Spielzeug benutzt wird und in der alle Menschen gleichermaßen gerecht behandelt werden. Das ist seine Vision.

Lässt sich denn sagen, ob diese, in gewisser Hinsicht sozialistische, Utopie Nachfolger wie Karl Marx beeinflusst hat?
Weniger als unmittelbarer Ideengeber, aber Karl Marx war natürlich vertraut mit Thomas Morus und er hat ihn als einen Vorläufer der Ideengeschichte des Sozialismus geschätzt. Fast alle sozialistischen Denker beriefen sich, wenn sie in der Ideengeschichte zurückschauten, in irgendeiner Weise auf Morus. Sie rekurrierten aber auch auf Platon und seine Ideen zur Gütergemeinschaft, das geht also zurück bis in die Antike. Morus ist sicherlich einer der ganz wesentlichen Wegbereiter.

Die bekannteren Utopien lassen sich ja scheinbar alle eher dem politisch linken Lager zuordnen. Gibt es solch umfassenden Idealvorstellungen denn auch am anderen Ende des politischen Spektrums?

Das ist eine sehr interessante Frage! Zunächst einmal: Historisch gesehen gibt es sie nicht, muss und kann es sie auch nicht geben, weil bis ins 19. Jahrhundert hinein konservatives Denken bedeutete, dass man den Status quo erhalten wollte. Wenn man zufrieden ist mit den bestehenden Verhältnissen, dann braucht man auch keine Utopien. Das gilt für alle klassischen konservativen Denker, die ja überhaupt erst durch die Herausforderungen des Liberalismus und der Französischen Revolution veranlasst wurden, sich hinzusetzen und ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
Anders sah die Sache erst mit dem Umschwung einiger Strömungen des konservativen Denkens von einer staatskonservativ-beharrenden Richtung hin zu einem völkischen Utopismus aus. In den Ideen der rassistischen, antisemitischen Weltuntergangsphilosophen vom Ende des 19. Jahrhunderts finden Sie dann in der Tat utopische Züge. Da gibt es durchaus Ähnlichkeiten, wobei allerdings die Dominanz der linken Utopien, wie ganz generell die Dominanz des linken Intellektualismus, unzweifelhaft ist.


Haben politische Utopien eine aufwiegelnde Wirkung? Oder ergehen sich die Menschen eher schicksalsergeben in Träumereien, anstatt an der Umsetzung von Utopien zu arbeiten?

Diese Frage wurde von der Utopieforschung intensiv behandelt. Bereits in den 1920er-Jahren hat sich der große Soziologe Karl Mannheim damit auseinandergesetzt. Mannheim kam zu der Überzeugung – die auch ich schlüssig finde – dass Utopien die Wirkung haben, bestehende politische Systeme zu destabilisieren und eine Idealvorstellung an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen. Das Problem ist aber: Was passiert, wenn die Utopie verwirklicht wird? Das ist auch der Grund, warum sich Mannheim damit beschäftigte, denn er hatte die marxistische Utopie und deren Verwirklichung in der Sowjetunion vor Augen. Hier konnte man sehen, dass Utopien, wenn sie die Macht erringen, ihrerseits repressiv und unterdrückend werden und die Fehler und Mängel, die sie ursprünglich anprangerten, in schlimmerer Form selbst wieder machen.

Kann man mit Verweis auf den „Realsozialismus“ in der Sowjetunion und im ehemaligen Ostblock behaupten, dass die Marx’schen Vorstellungen die bisher erfolgreichste gesellschaftliche Utopie darstellt?

Das hängt ein bisschen davon ab, wie Sie Erfolg definieren! Sicherlich ist es so, dass die Marx’schen Ideen mit den Veränderungen, wie sie Lenin und Mao vornahmen, und in der Umgestaltung hin zu einer politisch aktiven Kampfideologie, mit der sich die Macht in einem Staat mit Gewehren erobern ließ, natürlich schon eine sehr erfolgreiche Utopie waren. Nur: Unmittelbar nach Machterringung verwandelte sich diese Utopie in einen Alptraum voller Unterdrückung. Die erfolgreichste gesellschaftliche Utopie sehe ich woanders, an einer Stelle, an der man es vielleicht nicht unbedingt vermuten würde: Man kann die Idee einer liberalen Gleichheit aller Menschen als eine jahrhundertealte Utopie verstehen. Deren Verwirklichung mutete bis vor 200 Jahren – in Deutschland noch weitaus länger – gleichfalls utopisch an. Ich denke, die erfolgreichste Utopie der Weltgeschichte ist der liberale Rechtsstaat – auch wenn er uns nicht ohne Weiteres so vorkommt, weil wir ihn inzwischen selbstverständlich leben.

Wurde denn auch abseits dieser Großtheorien, vielleicht sogar erfolgreich, versucht, bestimmte Idealgesellschaften umzusetzen?

Kurz- und mittelfristig ja. Es hat eine ganze Reihe von Versuchen gegeben, Utopien in die Tat umzusetzen. Vor allem im 19. Jahrhundert versuchten mehrere frühsozialistische Denker, ihre Anhänger um sich zu scharen und mit ihnen nach Amerika auszuwandern. Dort waren so viele Chancen und so viel Platz, dass jeder alles probieren konnte. Das hat einige Zeit funktioniert; Robert Owen hat mit seinen Anhängern in Amerika mehrfach Kolonien gegründet. Nach einiger Zeit scheiterten diese Versuche aber allesamt.
Was allerdings auf Dauer erfolgreich war, sind religiöse Utopien, die ja auch in Amerika als Lebensentwurf versucht wurden. Denken Sie an religiöse Gemeinschaften wie die Amish. Die gibt es noch heute und sie leben im Prinzip nach demselben Wertekanon wie zur Zeit ihrer Einwanderung. Ein weiteres Modell, das in diesem Kontext erwähnt werden sollte, sind die israelischen Kibbuzim. Die entstanden auf Basis einer weltlichen Utopie mit sehr starken sozialistischen Elementen, die übers ganze 20. Jahrhundert hinweg als gelebte, alternative Lebensform entwickelt wurde und die in Israel bis heute erfolgreich ist.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wo liegt Ihr „Utopia“, wo ist für Sie „die Welt noch in Ordnung“?
(lacht) Darauf kann man einerseits antworten, dass Utopien durchaus erforderlich sind. Oscar Wilde hat mal davon gesprochen, dass jede Landkarte, in der das Land „Utopia“ nicht vorkommt, nichts wert wäre. Das ist ein guter Gedanke.
Aber ich fürchte, ich muss Sie ein wenig enttäuschen: Die Utopie, die meines Erachtens eine realistische Verwirklichungschance hat, ist genau die Utopie, die ich vorhin schon einmal angesprochen hatte, nämlich die Utopie des liberalen Rechtsstaats mit sozialer Gerechtigkeit und einem Modell, das letzten Endes den Werten der Französischen und Amerikanischen Revolution entspricht. Mit anderen Worten: Das, was über 200 Jahre hinweg als liberal-demokratischer Rechtsstaat versucht wurde. Das ist eine Vision, die den Vorzug hat, tatsächlich verwirklicht werden zu können.

Herr Dreyer, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das vollständige Interview findet ihr hier ab morgen (29. April 09).


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