von Luth
Aus strategischer Rücksichtnahme auf etwaige Befindlichkeiten unserer politisch doch sehr heterogenen Alt- und Neuleserschaft soll an dieser Stelle auf Artikel über die Vorzüge der Todesstrafe und die Erfolge von Bushs Außenpolitik vorerst verzichtet werden. Also wenden wir uns einem Thema zu, bei dem nicht nur StuRa-Mitglieder, ehemalige Akrützel-Chefredakteurinnen, Antifa-Aktivisten und Feministinnen, sondern wirklich alle mitreden können: dem Nasenbohren.
Per definitionem handelt sich dabei um das fingerfertige Entfernen von angetrocknetem Nasensekret oder Fremdkörpern (im Volksmund „Popel“ genannt) aus der Nase. Methodisch wird das Freihalten des oberen Atemwegeingangs von den ausführenden Subjekten sehr unterschiedlich angegangen, einhergehend freilich mit einer je nach angewandter Technik zunehmenden Tabuisierung.
Im öffentlichen Raum gilt das Ausblasen des Nasensekrets (im Volksmund „schneuzen“ genannt) in ein Taschentuch als einzig akzeptierte, da vermeintlich hygienischste Variante – bei zu fest angekrusteten Partikeln erreicht sie jedoch regelmäßig ihre Grenzen. Ganz Gewitzte stecken sich daher scheu ein über den Finger gelegtes Taschentuch ins Nasenloch und bleiben so gerade noch auf der guten Seite.
Die nächsten beiden Eskalationsstufen erreichen nur chronisch taschentuchlose, sinnlich-selbstversunkene, an haptischen Grenzüberschreitungen interessierte Pragmatiker: Sie bohren ungeniert im Gesichtserker und verzehren anschließend genüsslich das liebevoll entfernte Nasengold. Aus purem Lustgewinn – denn um Nahrungsergänzung geht es beim Popeln ganz sicher nicht – nehmen sie neben der sozialen Ächtung auch gesundheitliche Risiken wie Lederhautverletzungen („Exkoriationen“), Nasenbluten, Infektionen oder geweitete Nasenflügel in Kauf. Der Mediziner nennt solches Verhalten „Mukophagie“, bei zwanghafter Ausprägung gar „Rhinotillexomanie“.
Zartbesaitete Gemüter werden nun einwenden, dass sie spätestens seit Charlotte Roches literarischen Ergüssen gar nicht mehr in jeden Abgrund schauen möchten. Aber wie sagte eine Oberärztin der Jenaer Uniklinik einst zu Beginn ihrer HNO-Vorlesung in geradezu entwaffnender Offenheit zum versammelten Zahnmedizinernachwuchs: „Jeder von Ihnen bohrt in der Nase!“. Ich zumindest kann das bestätigen. Meine kleine Tochter versenkt beim Schlafen den Daumen ihrer rechten Hand im Mund, den abgespreizten Zeigefinger in der Nase – und wirkt dabei recht zufrieden. Meine Deutschlehrerin hatte so riesige Nasenlöcher, dass ich mehr als einmal sinnierte, ob das wirklich nur genetische Veranlagung sein kann.
Es ist schon eine gewisse Doppelmoral im Spiel, wenn sich selbst ernannte Anstandsapostel übers Nasenbohren aufregen. Ist die Empfehlung von Alternativmedizinern, sich Eigenurin ins Gesicht zu schmieren, etwa weniger eklig? Was soll ich von betrunkenen Studentenkonversationen halten, die sich um die Konsistenz von Popeln drehen („Ich mag die ganz Harten und Grindigen“ – „Ich eher die Schleimigen!“)? Gelangt ein Großteil des Nasensekrets und der darin aufgefangenen Schmutzpartikel über den Nasen-Rachen-Gang und den unwillkürlichen Schluckreflex nicht ohnehin irgendwann in jeden menschlichen Magen?
Genau wie Fingernägelkauen und Daumenlutschen wird sich Nasenbohren nicht verbieten lassen. Erinnert sei an den kläglich gescheiterten Versuch der chinesischen Staatsführung, exzessivem Spucken in der Öffentlichkeit rechtzeitig zu den Olympischen Spielen Einhalt zu gebieten. Hollywood ist da schon weiter: 2005 kam mit „Thumbsucker“ eine einfühlsame Tragikomödie über einen 17-jährigen Daumenlutscher in die Kinos, ein zwanghafter Nasenbohrer als moderner Leinwand-Anti-Held scheint da nur noch eine Frage der Zeit. So oute auch ich mich nun als Nasenbohrer und schließe mit Arthur Schopenhauer, der aphorisierte: „Der Schluck aus der Nase ist die Auster des kleinen Mannes.“
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