memorique: Deutschland und der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts

Vor etwa hundert Jahren vernichteten deutsche Truppen in Namibia einen Großteil der einheimischen Herero und Nama. Eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung steht bis heute aus.

von Reinhart Kößler

Als erster der vielen Völkermorde des 20. Jahrhunderts wird oft der Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges genannt. Auch von offizieller deutscher Seite wird die Türkei gelegentlich zu Recht gescholten, sich damit nicht auseinanderzusetzen. Doch sollte gleiches für den zeitlich noch früher liegenden Völkermord gelten, den deutsche Kolonialtruppen im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begingen. Hier entspricht die deutsche Politik weder den Ansprüchen, die sie selbst an andere stellt, noch dem manchmal artikulierten Selbstbild des „Erinnerungsweltmeisters“.

Strategischer Tod
Im Verlauf des Namibischen Krieges (1903-1908) brach die deutsche „Schutztruppe“ nicht nur den Widerstand der ansässigen Afrikaner gegen Unterwerfung und Landenteignung, sondern verfolgte in entscheidenden Phasen auch eine Vernichtungsstrategie, die nach den Maßstäben der UN-Konvention von 1948 den Tatbestand des Völkermordes erfüllt. Herero fielen zu 80, Nama zu 50 Prozent den deutschen Kolonialherren zum Opfer – durch Gefangenschaft in Konzentrationslagern und durch die deutsche Kriegsführung, die den Tod Tausender durch Verdursten in der Omaheke-Steppe strategisch einkalkulierte. In dem dünn besiedelten Land kamen so etwa 100.000 Menschen um. Den Überlebenden wurde die Rekonstruktion ihrer Lebenszusammenhänge in jeglicher Form verweigert. Das Land in Zentral- und Südnamibia wurde für die europäische Ansiedlung von Afrikanern buchstäblich ‚freigeräumt‘. Auch wenn es später durchaus zur Neukonstitution von Nama- und Herero-Gruppen kam: In wesentlichen Punkten wurden unter deutscher Herrschaft die Grundlagen gelegt, die später unter südafrikanischer Herrschaft zum Apartheidsystem ausgebaut wurden.
Die Erinnerung an das schreckliche Geschehen von vor nunmehr 110 Jahren wurde von den betroffenen lokalen Gemeinschaften durch orale Tradition und in einigen Fällen durch Erinnerungsfeste wach gehalten. Erst 1990, mit der Unabhängigkeit Namibias von Südafrika, konnten Nachkommen von Opfern und Überlebenden des Völkermordes beginnen, eine adäquate Aufarbeitung der Verbrechen in der Kolonialzeit einzufordern. Versuche, dieses Anliegen Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Roman Herzog bei ihren Besuchen 1995 und 1998 vorzutragen, wurden teils rüde zurückgewiesen. Delegationen wurden nicht oder nur inoffiziell empfangen und es wurde in jeder Hinsicht deutlich gemacht, dass für die Besucher die Anliegen der Deutschsprachigen im Lande Vorrang hatten. Die Herero People‘s Reparation Corporation beschloss anschließend, in den USA Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und deutsche Unternehmen zu erheben, wie dies etwa auch im Fall der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteuropa im Zweiten Weltkrieg geschehen war. Über diese Klage, die sich auf eine Entschädigungssumme von zwei Milliarden Euro beläuft, ist noch nicht abschließend entschieden.
Der hundertste Jahrestag der für den Namibischen Krieg zentralen Schlacht von Ohamakari (Waterberg) von 1904 erschien Vielen als Wendepunkt. Tausende Ovaherero kamen zu dem zentralen Erinnerungsritual am 14. August 2004. Das größte Aufsehen erregte hier die Rede der damaligen deutschen Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul. Während die rot-grüne Bundesregierung eine „entschädigungsrelevante Entschuldigung“ für den Völkermord verweigerte, wie es der damalige Außenminister Joseph Fischer ausdrückte, setzte sich Wieczorek-Zeul über die Kabinettsdisziplin hinweg: Sie benannte den Völkermord deutlich als solchen und bat in den Worten des Vaterunser „um Vergebung unserer Verfehlungen“. Freilich wurden die hohen Erwartungen, die dies in Namibia auslöste, in der Folge weitgehend enttäuscht.Die Opfergruppen in Namibia erwarten vor allem, dass auf eine adäquate Entschuldigung durch Bundespräsident oder Bundestag ein Dialog folge, in dem die deutsche Seite zunächst zuzuhören hätte. Was folgte, war aber zunächst eine Reihe wenig kohärenter Schritte von deutscher Seite. Schließlich verkündete Wieczorek-Zeul 2005 einseitig eine Sonderinitiative zur Versöhnung. Die damit verbundenen Maßnahmen stießen immer wieder auf die zentrale Kritik an unilateralen, von Deutschland ausgehenden Entscheidungen und mangelhafter Berücksichtigung der Anliegen und Bedürfnisse der Opfergruppen.

Gebeine aus Namibia
Im Oktober 2006 brachte eine Resolution der Namibischen Nationalversammlung einen Wendepunkt. Seither hat sich auch die Regierungspartei SWAPO die Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung Deutschlands und nach Reparationen zu eigen gemacht. Fast gleichzeitig setzten in Namibia Mobilisierungsprozesse ein, in denen dieses Anliegen weit über die Kreise der anfangs besonders aktiven Herero hinaus getragen wurde: Es kam zu formalisierten Bündnissen zwischen Gruppierungen von Herero und Nama, daneben auch anderen vom Völkermord nicht ausdrücklich und unmittelbar betroffenen Gruppen.
Zunehmend rückte der Skandal menschlicher Überreste in den Blickpunkt, die während der Kolonialzeit aus Namibia (wie auch aus anderen Kolonien) zum Zweck „rassekundlicher Forschungen“ nach Deutschland gebracht worden waren und nach wie vor in wissenschaftlichen Institutionen lagern. Die Hoffnung, dass die Notwendigkeit, diesen Zustand durch eine würdige Rückgabe zu beenden, allgemein anerkannt würde, wurde enttäuscht. Noch immer herrscht Unklarheit über die Bestände von Schädeln und anderen Körperteilen Verstorbener aus Namibia in deutschen Institutionen, und Nachforschungen bleiben abhängig von engagierter Privatinitiative. Nur zwei Institutionen, die Berliner Charité und die Universität Freiburg, haben die Herkunft von insgesamt 54 Schädeln bzw. Skeletten geklärt und diese 2011 und 2014 zurückgegeben. Die Umstände der Rückgabe-Aktionen zeigten deutlich die fortbestehende Problematik und Komplexität namibisch-deutscher Erinnerungspolitik.

Schädel als „Kulturgüter“
Im September 2011 kamen über 70 namibische Delegierte nach Berlin, um die ersten 20 Schädel aus der Charité nach Hause zu holen. Die Bundesregierung verweigerte eine offizielle Beteiligung an der Übergabe unter Verweis auf die Kulturhoheit der Länder: Die Schädel wurden nicht als Überreste toter Menschen, sondern als Kulturgüter definiert. Regierungsvertreter blieben den Veranstaltungen einschließlich des Trauergottesdienstes fern. Nur bei der Übergabe, die dann durch den Vorstandsvorsitzenden der Charité Karl Max Einäupl an die Vorsitzende der Namibian Heritage Foundation Esther Moombala-/Goagoses erfolgte, sprach auch die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper. Ihre Rede wurde von Angehörigen deutscher zivilgesellschaftlicher Gruppen mit Zwischenrufen und Forderungen nach sofortiger Entschuldigung und Reparationen begleitet. Pieper verließ danach abrupt die Veranstaltung, ohne sich auch nur von den namibischen Delegierten zu verabschieden. Dieser Affront fand in der deutschen und internationalen Presse weit mehr Beachtung, als Namibia sonst zuteil wird und leitete eine Reihe diplomatischer Konfrontationen ein. Dabei wurde immer wieder deutlich, dass das Problem im Kern in der Weigerung der Bundesregierung besteht, den Völkermord als solchen deutlich zu benennen und eine klare Entschuldigung abzugeben. Für die Bundesregierung war es daher konsequent, bei einer zweiten Repatriierung menschlicher Überreste im März 2014 möglichst wenig öffentliches Aufsehen zu erregen. Die namibische Seite kooperierte, handelte sich dabei aber schwere Konflikte mit den Opfergruppen ein. Anfang 2015 deutete sich vielleicht eine Wendung an: Der Regionalbeauftragte für Afrika südlich der Sahara des Auswärtigen Amtes, Georg Schmidt, stellte in Windhoek die Bedeutung eines direkten Dialogs mit den Nachfahren der Opfer des Völkermordes – den allerdings auch er nicht als solchen bezeichnete – heraus. Er verband dies mit dem Ausdruck des Bedauerns für die „Gräuel“ der Kolonialzeit. Ob damit ernstlich
Bewegung in die Haltung des Auswärtigen Amtes gekommen ist, bleibt abzuwarten.

Reinhart Kößler

ist Direktor des Arnold Bergstraesser-Instituts Freiburg und Professor am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg. Neueste Publikation: Namibia and Germany: Negotiating the Past. Windhoek 2015, ab Herbst 2015 auch im deutschen Buchhandel.

Mail: reinhart.koessler@abi.uni-freiburg.de

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