„Der Vater der Kinder und Helfer der Mütter“?

Dem ehemaligen Jenaer Ehrenbürger und Kinderarzt Prof. Dr. Jussuf Ibrahim wurde und wird trotz seiner Beteiligung an den Euthanasiemaßnahmen der NS-Zeit glorifiziert. Dies machte sich sogar noch beim Streit um die Aberkennung seiner Ehrenbürgerschaft im Jahr 2000 bemerkbar. Ein Text über die Verklärung einer Person und die fehlgeschlagene Aufarbeitung in Jena.

von Sebastian Baum


Schon früh in meinem Leben kam ich zum ersten Mal in Berührung mit dem Namen „Jussuf Ibrahim“. Meine Kinderkrippe in Kahla wurde nach diesem Kinderarzt aus Jena benannt, um ihn posthum für seine „Errungenschaften“ zu ehren, für all die Hilfe welche er den Kranken zukommen ließ. Was ich damals, als Grundschüler in den 90ern, noch nicht wusste, war, dass nicht lange danach, im Jahr 2000, eine öffentliche Debatte um seinen Ruf stattfinden würde. Die Friedrich-Schiller-Universität würde eine wissenschaftliche Kommission bilden und seine aktive Beteiligung an den Euthanasiemaßnahmen des NS-Staates nachweisen. Und in der darauffolgenden Abstimmung im Jenaer Stadtrat um die Aberkennung seiner Ehrenbürgerwürde wird ein Teil der Abstimmenden trotz der Beweislast gegen eine Aberkennung stimmen und versuchen seine Taten zu relativieren. Einen der Gründe dafür kann man wohl im mystifizierenden Umgang der DDR mit seinem Vermächtnis sehen.

Der Personenkult

Doch der Ibrahim-Kult bestand schon lange vor der DDR, wie Marco Schrul und Jens Thomas in Kollektiver Gedächtnisverlust: Die Ibrahim-Debatte 1999/2000, ihrem Beitrag zum Werk Kämpferische Wissenschaft – Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus betonen. Geboren am 27. Mai 1877 in Kairo als Sohn eines ägyptischen Arztes und einer deutschen Mutter, studierte er in München Medizin und promovierte in 1900. Nach seiner Habilitation in Heidelberg kehrte er 1906 nach München zurück und erlangte 1912 die deutsche Staatsbürgerschaft. Er begann seine Tätigkeit in Jena am 1. April 1917 als Professor am neugeschaffenen Lehrstuhl für Kinderheilkunde. Bereits in der Weimarer Republik veranstaltete man zu Ibrahims 50. Geburtstag 1927 einen Fackelzug durch Jena. Heutzutage wäre es wohl kaum vorstellbar, einem Arzt der Uniklinik eine ähnliche Ehrung zuteilkommen zu lassen. Die Ehrungen hielten durch die NS-Zeit hindurch an, trotz Ibrahims ägyptischem Vater, so wurde ihm etwa 1943 das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse verliehen. 1936 wurde Ibrahim aufgefordert, einen Ariernachweis zu erbringen, was ihm nicht möglich war, doch 1937 stellte ihm Karl Astel, da noch Präsident des Landesamtes für Rassewesen, später Rektor der Uni Jena, ein Unbedenklichkeitsschreiben aus. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP, welche Ibrahim bereits vor der Machtübernahme 1933 anstrebte, blieb ihm jedoch verwehrt, wenngleich, so Schrul und Thomas, eine Nähe zum Regime in einigen wesentlichen Punkten unverkennbar war. In der DDR wurde, trotz seines fortgeschrittenen Alters und obwohl es fähigen Ersatz gegeben hätte, seine Anstellung an der FSU bis zu seinem Tod fortgesetzt, zu nützlich war sein Ruf eines pflichttreuen, unermüdlich für seine „humanistischen Ideale“ arbeitenden Kinderarztes. 1947 wurde er anlässlich seines 70. Geburtstages zum Ehrenbürger Jenas ernannt und erhielt die Ehrendoktorwürde der Pädagogischen Fakultät, an seinem 75. Geburtstag. 1952 wurde er Ehrensenator der FSU. Außerdem erhielt er 1950 den Titel „Verdienter Arzt des Volkes“ und bekam 1952 den Nationalpreis erster Klasse für Wissenschaft und Technik. Nach seinem Tod am 3. Februar 1953 wurden allein in Jena zwei Kindergärten nach ihm benannt, darunter ein integrativer, die Kinderklinik und eine Straße, der heutige Forstweg. Außerhalb Jenas trugen Ferienlager, Kinderkrippen und Sanatorien seinen Namen. Sein Grab auf dem Nordfriedhof schmücken die Sprüche “Sein Leben war Liebe, Güte, Helfen“ und “Vater der Kinder und Helfer der Mütter”. Die sogenannten “Ibrahim- Krankenschwestern” der Jenaer Kinderklinik waren stolz, seinen Namen in Ehren zu halten. Ihm wurden die Verbesserung der Ausbildung von Kinderkrankenschwestern und die Senkung der Kindersterblichkeit zugeschrieben. Laut Schrul und Thomas entstand neben dieser offiziellen Tradition sowie einer liberal- sozialistischen Inanspruchnahme […] eine kollektive Erinnerungskultur, welche in die herrschende lokale Geschichtstradition eingebunden war“. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wusste von Ibrahims aktiver Teilnahme an der im NS-Staats betriebenen Kindereuthanasie, machte dies jedoch nicht öffentlich, zu nützlich schien sein guter Ruf für das System zu sein. Eine 1971 erschienene Biographie in Romanform von Wolfgang Schneider mit dem Titel Arzt der Kinder schmückte das Ibrahim-Bild weiter aus, mystifizierte es und prägte die Erinnerung an den Kinderarzt, der so vielen Bürgern Jenas in ihrer Kindheit geholfen, ihnen teilweise sogar das Leben gerettet hat.

Das Vermächtnis gerät ins Wanken

Erst allmählich gerieten Informationen an die Öffentlichkeit, welche das Bild des gutmütigen Kinderarztes ins Wanken bringen sollten. Ein erster Verdacht kam 1983 auf, als in Ernst Klees Arbeit Euthanasie im NS-Staat ein Schreiben des Leiters der Euthanasiemaßnahmen, Herbert Linden, an Karl Astel, den Rektor der Uni Jena, vom Juli 1943 abgedruckt wurde. Da heißt es: „Der Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden macht mich darauf aufmerksam, dass die Universitätsklinik in Jena ihren Krankenblättern immer wieder Einträge ‚Euthanasie beantragt‘ ‚die beantragte Euthanasie ist noch nicht bewilligt‘ macht…“. Durch Ibrahims Position in der Kinderklinik und der FSU können diese Krankenblätter nicht einfach ihren Weg an ihm vorbei gefunden haben, ein erstes Anzeichen für einen aktiven Part an der Euthanasie. Ein weiterer Verdacht kam dann nach dem Ende der DDR, als Dr. med. Susanne Zimmermann 1993 ihre medizinhistorische Habilitation über die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus vorlegte. Damals blieb zunächst noch eine öffentliche Debatte aus. Selbst im August 1999, nach dem Symposium „Euthanasie im Nationalsozialismus“ in Weimar und einem Artikel in der Kirchenzeitung Glaube und Heimat über das Symposium, kam es zu keiner Diskussion in der breiteren Öffentlichkeit. Ende 1999 tauchte dann ein Brief Ibrahims vom 5. Januar 1944 auf, welcher sich an den Leiter der „Kinderfachabteilung“ Stadtroda richtete, mit der Diagnose eines Kindes mit Behinderung mit dem Vermerk „Euth.?“ Dieser entfachte die öffentliche Diskussion. Am 24. Januar 2000 wurden im Jenaer Rathaus öffentlich die belastenden Dokumente bei der Veranstaltung „Tabuisierte Vergangenheit“ vorgestellt. Darauf befasste sich die vom Senat der FSU berufene Kommission bis zum 19. April 2000 mit der Überprüfung der Vorwürfe, dabei kam eine zweite Überweisung eines Kindes von Ibrahim zutage mit dem Zusatz „Euthan. wäre durchaus zu rechtfertigen und im Sinne der Mutter“. Traurig dabei ist, dass auch noch im Jahr 2000 Kritiker der Aberkennung von Ibrahims Ehrungen auf solche Art argumentierten und seine Taten relativierten. So etwa Prof. Dr. med. Eggert Beleites, der damalige Präsident der Landesärztekammer Thüringen, dessen Aussagen zum Teil stellvertretend für die Verteidiger der Ehrenbürgerschaft Ibrahims stehen können. Er sagte in einem Interview im Deutschen Ärzteblatt, Nr. 27/2000, dass ihm spätestens seit der Habilitation Susanne Zimmermanns klar war, dass Ibrahim an der Tötung von Kindern mit Behinderung in der Kinderfachabteilung Stadtroda beteiligt war, dass es ihn nicht überraschte, dass in der NS-Zeit viele Kinderkliniken und psychiatrische Einrichtungen an dem Tötungsprogramm des Regimes beteiligt waren und fügte hinzu, „dabei muss man auch wissen, dass es Eltern gab, die das ausdrücklich wünschten, weil die meinten, mit ihrem behinderten Kind überfordert zu sein“, da bekommt Ibrahims Titel als “Helfer der Mütter“ eine ganz andere Bedeutung. Eine solche Argumentation kann dazu dienen, einen Teil der Verantwortung von den Ärzten auf die Eltern zu übertragen. Weiter relativierte Beleites, dass es zu einfach sei, Ibrahim von seinen Gesamtumständen losgelöst zu sehen, man sollte bedenken, dass er Halb-Araber war (gegen ihn wurden wie bereits dargelegt keine Bedenken von Seiten der Rassenideologen ausgesprochen). Auf die Frage des Deutschen Ärzteblattes, ob es ihm zu weit ginge, zu sagen, dass er das Handeln Ibrahims, gleich der Zeitumstände, verurteile, antwortete er „Ja, ich habe hier nicht zu urteilen, ich bin kein Strafrechtler.“ Immerhin gestand er zu, dass Ibrahim, der durch vier verschiedene politische Systeme hindurch wirkte, eine „gewisse opportunistische Haltung“ haben musste. Auch räumte er ein, dass Ibrahim sogar für Kinder eine Euthanasieempfehlung gab, bei denen die Kinderfachabteilung in Stadtroda eine andere Prognose stellte, „also stellte Ibrahim in diesem oder jenem Fall wohl viel zu großzügig seine Prognosen“. Dennoch sprach sich Beleites im Interview trotz der negativen Taten gegen eine Aberkennung der Ehrungen Ibrahims aus, jedoch mit der Begründung, dass eben die Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten, dass man nicht „den Namen tilgt und danach alles in Ordnung ist.“

Streit um die Umbenennung

Am 18. April 2000 wurde die Umbenennung der Kinderklinik bekannt gegeben, am 5. Dezember die Ibrahim-Straße umbenannt und nach der mehrfach vertagten Stadtratssitzung vom 11. Oktober 2000 wurde mit einer Mehrheit von 56% dafür gestimmt, dass in Ibrahims Akte im Stadtarchiv vermerkt wird, dass er nicht mehr als Ehrenbürger der Stadt gilt. Neun Stimmen waren gegen die Aberkennung, acht Stimmen enthielten sich. Was motivierte die neun Gegenstimmen, für Ibrahim Partei zu ergreifen? Katrin Zeiss schrieb am 11. Oktober 2000 in ihrem taz-Artikel, dass ein ungenannter CDU-Stadtrat einen offenen Brief an Olaf Breidbach, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik und Teil der Ibrahim-Kommission, schrieb, in dem er ihm vorwarf, „erst vor wenigen Jahren von West nach Ost gekommen zu sein, weshalb er sich kein Urteil über Ibrahim anmaßen dürfe“. Ein anderer ungenannter CDU-Stadtrat habe die Euthanasie sogar mit Abtreibung verglichen. Schrul und Thomas wiesen in ihrer Auswertung der Ibrahim-Debatte auch auf die „Flut von Leserbriefen“ hin, welche in den Jenaer Lokalzeitungen veröffentlicht wurden, mit der Tendenz: „Die überwiegende Zahl der Jenaer sah eine Beteiligung Jussuf Ibrahims an der NS-Euthanasie als nicht erwiesen an oder relativierte sie.“

Ein Drittel der Leserbriefautoren schien eine persönliche Beziehung zu Ibrahim zu haben, durch ihre berufliche Tätigkeit oder weil sie bei ihm in medizinischer Behandlung waren, und somit war ihre Einschätzung seiner Person positiv gefärbt. Eine weitere Gruppe argumentierte gar nicht gegen die Vorwürfe der Euthanasie, sondern gegen die (Herkunft der) Wissenschaftler, welche an der Kommission beteiligt waren (siehe den offenen Brief des CDU-Stadtrates), vor allem gegen Ernst Klee. Womöglich sind die Gegenstimmen der Stadträte damit zu erklären, dass sie versuchten, sich an die positive Rezeption Ibrahims durch die Jenaer anzuschmiegen, anstatt gegen sie zu argumentieren. Abschließend stellt sich die Frage: Warum dieser Artikel? Warum jetzt, 23 Jahre nach der Debatte? Er soll dazu dienen, die Warnung Prof. Dr. Beleites ernst zu nehmen. Der Name Ibrahims soll nicht einfach getilgt und vergessen werden, sondern ein Mahnmal für die Relativierung der NS-Verbrechen sein. Leser dieses Artikels leben unter Umständen schon Jahre in Jena, ohne je von Ibrahim gehört zu haben, ohne zu wissen, dass die Straße, in der sie leben, dass der Kindergarten ihrer Kinder, dass die ehemalige Kinderklinik in der Kochstraße 2, von welcher ein Teil ab Frühjahr/Sommer 2023 für zwei Jahre vom Café Wagner genutzt werden wird, einst seinen Namen trugen.


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