30 Jahre nach der Wende scheint die deutsche Teilung in vielen Köpfen noch nicht überwunden. Ein Meinungsbeitrag über die tragende Rolle der Medienberichterstattung.
von Hanna
Mit „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ wirbt Baden-Württemberg für sich, Sachsen-Anhalt ist allgemein als „Das Land der Frühaufsteher“ bekannt und in Brandenburg könne man „Neue Perspektiven entdecken“ In Thüringen, so heißt es, habe Zukunft Tradition. Das, was unser Bundesland so interessant und beachtenswert macht, ist nicht nur die Historie und Kultur, sondern allen voran die geographische Lage. Wirft man einmal einen Blick auf eine Deutschlandkarte, so fällt schnell auf, dass Thüringen genau in der Mitte liegt. Der eineinhalb Stunden von Jena entfernte Ort Niederorla wurde sogar offiziell zum Mittelpunkt Deutschlands auserkoren. Warum hat man trotzdem das Gefühl, Thüringen gehöre in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch klar zu Ostdeutschland? Zwar las man, als sich der Mauerfall im November 2019 zum 30. Mal jährte, überall von der heutigen deutschen Einheit und der Focus brachte beispielsweise einen Artikel heraus, in welchem „12 Gründe, warum es gut ist, dass die DDR unterging“ gelistet waren. Es ist unbestritten, dass es in vielen Köpfen immer noch den Osten auf der einen und alle übrigen Bundesländer auf der anderen Seite gibt – selbst in jenen, die die Trennung DDR und BRD nicht einmal mehr mitbekommen haben.
‚Der Osten‘, vielleicht sogar mehr als ‚der Westen‘, ist nach wie vor ein großer Teil unserer Identifikationskultur – eben auch der der Jugend. So wird immer noch häufig unterschieden zwischen ‚Wir hier im Osten.‘ und ‚Ihr da drüben im Westen.‘ – eine Unterteilung, von der durch Vorurteile, die ihren Ursprung in früheren Generationen haben, immer noch angenommen wird, man könne von ihr auf die Person schließen. Als ich über das Für und Wider dieses Gedankenganges nachgrübelte, kam es mir wie eine Sisyphos-Aufgabe vor, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum so altes und definitiv überholtes Gedankengut nach wie vor fester Bestandteil unseres heutigen Lebens ist.
Ein Blick in deutsche Zeitungen sollte mir weiterhelfen. Letzen September, im Vorfeld der Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wurden besonders viele Artikel über den ‚Osten‘ publiziert. Ganz Deutschland schaute mit argwöhnischem Auge auf ihn – insbesondere auf Sachsen – und spekulierte, wie die Wahlen wohl ausgehen würden. An jedem Zeitungsstand war zu lesen ‚Der Osten wählt …‘. Die Welt titelte „Was die Wahlkreis-Prognose über die Stimmung im Osten verrät“ und im Tagesspiegel stand geschrieben „Ostdeutsch, jung, rechts – die AfD gewinnt auch bei den Jungwählern“. Die gewählte polemische Sprache zieht sich wie ein roter Faden durch die Artikel über ‚Ostdeutschland‘ – von ‚Westdeutschland‘ war kaum etwas zu lesen. Tatsächlich wurde der Begriff ‚Ostdeutschland‘ in den letzten fünf Jahren doppelt so oft (103.945) wie das westdeutsche Pendent (49.213) in den deutschen Medien verwendet, so eine Erhebung der Datenbank Factiva. Die Trefferzahlen bei Google passen ebenso ins Bild: für ‚Ostdeutschland‘ zeigt die Suchmaschine 4.340.000 Ergebnisse, für ‚Westdeutschland‘ nur 2.350.000. Grund dafür ist nicht etwa, dass der Osten häufiger im Gespräch war. Das eigentliche Problem scheint zu sein, dass die Berichterstattungen über den östlichen Teil Deutschlands eher unter diesem Oberbegriff verallgemeinert werden, über die Westbundesländer hingegen differenziert und individuell berichtet wird. So wird in unsere Denkmuster weiterhin das Bild eines getrennten Deutschlands hineinprojiziert.
Nicht nur einzelne Begrifflichkeiten, sondern auch ganze Artikel stellen eine Einheit Deutschlands in Frage. Das betrifft nicht nur die großen überregionalen Medien, sondern auch regionale Zeitungen. So druckte der Südkurier zum Beispiel 2019 folgendes Interview: „Ostdeutsche Jugendliche sorgen sich wegen des Islam, westdeutsche wegen des Klimas“. Dem Titel nicht oder nur schwer entnehmbar ist, dass es um die Ergebnisse einer Umfrage zu den beruflichen Perspektiven und Erwartungen Jugendlicher in Ost und West geht. Im Interview wird klar, dass es schlichtweg immer noch unterschiedliche berufliche Chancen gibt und die Zukunft dahingehend klar im Westen liegt. Diese Einschätzungen zur beruflichen Perspektive wirkten sich wiederum auf das Politikverständnis der Bevölkerung aus – die ostdeutschen Jugendlichen fürchten demnach beispielsweise Überfremdung, eine Einflusszunahme des Islams und Kriege sowie den demografischen Wandel. Im Westen hingegen herrsche die Sorge um den Klimawandel und Fremdenfeindlichkeit vor.
Seltener, aber dennoch existent, sind Berichte der anderen Seite. In der Zeit Online erschien anlässlich des 30jährigen Mauerfalls ein Artikel, mit der Headline „So viele Experten für die ostdeutsche Seele“. Die Autorin Marlen Hobrack, welche sich selbst mehrfach als Ossi bezeichnet, zerlegt mit viel satirischem Witz den Opferstatus des Ostens und die Wahrnehmung der Westbevölkerung: „Inzwischen wurden wohl schon alle Ostdeutschen mindestens dreimal zur Lage in ihrem Bundesland interviewt. Hätten ZDF, ARD und die Privaten jedem Ossi, den sie samt Funktionswetterjacke vor eine laufende Kamera zerrten, hundert Mark, äh, Euro in die Hand gedrückt – der ostdeutsche Rückstand in Sachen Kaufkraft wäre aufgeholt.“ – so kann Ost-West-Berichterstattung also auch gehen. Nicht mit erhobenem Finger oder eingezogenem Schwanz, sondern mit klarem Blick darauf, was wirklich die Unterschiede ausmacht: Lebensverhältnisse, Löhne und Renten. Diese Art der Berichterstattung stellt definitiv eine Ausnahme dar. Der größte Teil der Zeitungsartikel scheint einseitig und dem Osten gegenüber polemisch negativ eingestellt. Das könnte daran liegen, dass sich die tonangebenden Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten in den alten Bundesländern befinden. Die Zeit schreibt an dieser Stelle reflektierend von einem daraus folgenden Fremdblick auf den Osten: „Mit dem Begriff ‚Ostdeutschland‘ wird die DDR permanent assoziativ reaktiviert. Man könnte zuspitzen: Dieses geografische Framing der politischen Berichterstattung reproduziert ein Stück weit die Teilung des Landes. Und zwar jeden Tag aufs Neue.“ Prinzipiell ist der hier benannte Fremdblick nichts Ungewöhnliches im Journalismus und muss nicht automatisch negativ determiniert werden. Dass viele Medienhäuser ihre Reporter auch erst einmal ‚rüber‘ schicken müssen, zeigt meiner Meinung nach eine weitere Problematik auf – die schlichtwege Unterbesetzung in den neuen Bundesländern. Wenige Korrespondenten in großen Städten wie Dresden oder Leipzig müssen ganze Bundesländer abdecken, im Westen hingegen haben wichtige überregionale Zeitungen Sitze in vielen Städten, wie beispielsweise die Süddeutsche Zeitung unter anderem in Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Karlsruhe und Stuttgart.
So stellt sich schlussendlich die Frage, ob – von allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschieden einmal abgesehen – es eine Einheit auch in den Köpfen geben kann, wenn durch die Medien, die wir tagtäglich konsumieren, noch so differenziert wird? Muss sich vielleicht erst diese Sichtweise ändern, damit die politischen Einstellungen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten ebenso aus dem Weg geräumt werden können? Oder ist es gar anders herum? Und reichen weitere 30 Jahre oder werden wir 2049 immer noch Artikel im Südkurier lesen, wie „Frust treibt Ostjugend in die Arme der AfD“?
Lassen wir zum Schluss Marlen Hobrack, die in ihrem Artikel auch von der Bedeutung des Vokabulars geschrieben hat, noch einmal zu Wort kommen: „Das Post-Wende-Ost-Kollektiv ist ein Phantasma, das jedes Mal wieder von Neuem erzeugt und verstärkt wird, wenn ein Ostdeutscher als solcher adressiert wird. Vermutlich wird es noch ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen, bis Ostdeutsche nicht mehr beweisen müssen, dass sie etwas mehr als ein wandelndes Klischee sind, nicht nur braun, nicht nur quengelig.“ Obwohl ich selbst propagiere, dass erst das Ost-West-Vokabular aus den Zeitungen verschwinden müsse, um es letztendlich aus unseren Denkweisen zu löschen, schreibe ich dabei selbst ständig vom ‚Osten‘ und ‚Westen‘. Ein Paradoxon, von dem ich mir nicht sicher bin, wie man es lösen kann. Ein Alltagsmythos, nach der Definition des Philosophen Roland Barthes, durch Kultur gewachsen aber somit eben auch veränderbar. Es handelt sich hierbei um keine Naturgesetze; genauer gesagt sind diese Bezeichnungen schlichtweg nur Himmelsrichtungen. Die politische und soziokulturelle Bedeutung haben wir ihnen zugemessen. Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem jeder einzelne von uns ansetzen kann.
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