Taub, hörgeschädigt, behindert: Die Bezeichnungen für Gehörlose sind vielfältig, doch meist nicht positiv konnotiert. Doch wie ist das Selbstbild der angeblich so hilf- und schutzbedürftigen Gruppe? Ein Blick auf die Deafhood.
von Robert
Einhundert Prozent ist der Grad der Behinderung bei vollständig Gehörlosen nach der Versorgungsmedizinischen Verordnung in Deutschland. Und wenn man weiß, dass dem gehörlosen Elternteil bei einer Scheidung des Öfteren das Sorgerecht abgesprochen wird, Ärzte mit dem Gebärdendolmetscher, aber nicht mit dem Patienten reden oder Abiturienten ein Studium nicht möglich ist, weil die Kosten eines Dolmetschers nicht übernommen werden, dann wird man wohl nicht bestreiten, dass Gehörlose immer noch behindert werden – was allerdings nicht die Frage klärt, ob sie behindert sind.
Der gehörlose Brite Paddy Ladd stellte 2003 in seinem Werk Understanding Deaf Culture das Konzept der Deafhood vor. Demnach sind Gehörlose nicht behindert, sondern eine eigenständige kulturelle Gemeinschaft: Sie bilden eine ethnische Gruppe, da das Merkmal der Gehörlosigkeit auch genetisch vererbt werden kann. Zweitens formen sie, als Nutzer der Gebärdensprache, eine sprachliche Minderheit. Die Gehörlosigkeit ist in diesem Sinne kein körperliches Defizit, sondern ein identitätsstiftendes Merkmal. Vor allem fordert Ladd von den Gehörlosen, sich ihrer kulturellen Wurzeln gewahr zu werden und aktiv an der Gesellschaft zu partizipieren.
Der Begriff Deafhood grenzt sich in dieser Hinsicht bewusst sprachlich vom pathologischen Deafness ab. Ladds Thesen waren revolutionär und hatten starken Einfluss auf die weltweite Gehörlosengemeinde und ihr Selbstverständnis. Das Bild der hilfsbedürftigen Behinderten wandelte sich zu dem einer wehrhaften Kultur, deren Mitglieder in den letzten Jahren an Souveränität gewonnen und erfolgreich um Anerkennung gekämpft haben. Seit 2006 wird die Gebärdensprache gemäß UN-Konvention als vollwertige Sprache anerkannt. Konkret erwächst damit jedem ihrer Nutzer der individuelle Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung seiner Kultur und Sprache sowie ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Markku Jokinen, ehemaliger Präsident der World Federation of the Deaf, sieht sogar die vollständige Anerkennung der Gebärdensprache auch durch die Hörenden als Ziel bis 2020.
Kultureller Genozid?
Hat sich die Situation für Gehörlose weltweit und besonders in westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten verbessert, so herrscht bei den Deafhood-Aktivisten dennoch eine permanente Angst vor dem, was sie als colonisation bezeichnen: Paddy Ladd und andere sehen die Kultur der Gehörlosen unter Druck der (hörenden) Mehrheit: Die Unterrichtung gehörloser Kinder durch hörende Lehrer oder der Oralismus – die Erziehung gehörloser Kinder unter Erlernen des Lippenlesens statt der Gebärdensprache – sind Teile dieser vermeintlichen Assimilationsbewegung, die zur Unterwanderung der Gehörlosenkultur führen würden. Die medizinische Behandlung von Gehörlosigkeit sorgt hierbei immer wieder für kontroverse Debatten. Neben den künftigen Möglichkeiten genetischer Modifikation bildet das Cochleaimplantat (CI) einen aktuellen Streitpunkt. Diese 1978 erfundene Hörprothese wird im Gegensatz zum herkömmlichen Hörgerät, das den Schall im Ohr lediglich verstärkt, in die Gehörmuschel implantiert und transportiert mit Hilfe eines Empfängers am Ohr Signale direkt in den Hörnerv. Nach der Operation muss das CI noch individuell an seinen Nutzer angepasst werden – ein Prozess, der Monate, unter Umständen Jahre dauern kann.
Für die einen ein medizinisches Wunder, für Vertreter der Gehörlosenkultur ein Angriff auf ihre kulturelle Existenz: Das Ja zum Implantat wird zum bewussten Schritt aus der Welt der absoluten Gehörlosigkeit. Markku Jokinnen geht dabei sogar soweit, das CI als „kulturellen Genozid“ im Sinne der UN-Völkermordkonvention zu bezeichnen – eine Formulierung, die auf den ersten Blick anstößig oder drastisch erscheinen mag, aber durchaus nicht abwegig ist. Die Konvention erfasst nicht nur die Auslöschung von ethnischen, religiösen, nationalen und rassischen (sic!) Gruppen, sondern auch die Untersagung oder Unterbindung von Minderheitensprachen im Alltag, in der Schule oder den Medien. Im Rahmen dieser Kritik beklagt Jokinen nicht nur das CI, sondern auch die Unterrepräsentation der Gehörlosenkultur in öffentlichen Einrichtungen. Das Bild einer monolingualen Welt werde Gehörlosen von klein auf durch die hörende Mehrheit vorgegeben.
Mehr als ein medizinischer Eingriff
„Is our existence a biological mistake? Are we a mistake? Sorry, I don‘t believe that.“ so das Statement Paddy Ladds in einem Vortrag 2007. Eine logische Schlussfolgerung nach dem Selbstverständnis der Deafhood-Anhänger: Wer sich selbst nicht als behindert sieht, bedarf keiner Heilung.
Andere kritische Stimmen verweisen auf die Qualität der Implantate, die von Patient zu Patient variiert und nicht mit „natürlichem Hören“ vergleichbar ist. Das CI sei vielleicht eine Hilfe, aber keine Alternative zur Gebärdensprache. Dr. Boris Müller, Mediziner am Uni-Klinikum Jena und seit seinem 19. Lebensjahr selbst Träger von zwei CI, urteilt rückblickend: „Es war wohl eine der besten Entscheidungen meines Lebens und ich bin mir sicher, dass ich die Herausforderung des Studiums sonst nicht so gut hätte meistern können.“ Auch die Rentnerin Astrid Pautzke bewertet das Implantat generell positiv. Sie wurde nicht gehörlos geboren, verlor aber im Laufe der letzten 20 Jahre immer stärker ihr Gehör und ließ sich im Oktober 2013 ein CI implantieren. „Natürlich ist es nicht wie normales Hören, das einfach nebenher funktioniert, aber im Moment lasse ich jede Woche das Implantat anpassen und es wird zunehmend besser.“ Skeptisch war sie vor der OP trotzdem. Wie viele Patienten scheute sie anfangs einen Eingriff am Inneren ihres Schädels. Die Tatsache, dass man direkt nach dem Eingriff nicht hört und die nachfolgende mühsame Anpassungsphase wirken oft abschreckend.
Mag man die Entscheidung für oder gegen ein CI jedem Erwachsenen noch selbst überlassen, so stellt sich das eigentliche Problem bei Kindern. Ein Gerichtsverfahren in den USA sorgte diesbezüglich für Aufsehen: Der gehörlosen Mutter Lee Laryson wurde das Sorgerecht für ihre drei und vier Jahre alten, ebenfalls gehörlosen Kinder zunächst entzogen, da sie sich weigerte, ihre Kinder mit Cochleaimplantaten auszustatten. Im Herbst 2002 entschied ein Gericht in Michigan schließlich, dass es der Mutter zustehe, eine OP für ihre Kinder abzulehnen. Auch in Deutschland handelt es sich bei einer solchen Operation nicht um einen „Heileingriff“, wie etwa eine lebensrettende Bluttransfusion, sondern lediglich um einen „Hilfsmitteleingriff“, bei dem der elterliche Wille dem Kindeswohl vorgeht. Damit ist die Debatte zwar momentan juristisch geklärt, doch stellt sich weiterhin die Frage, welche Entscheidung Eltern treffen sollten.
Alle Möglichkeiten offen halten
Kann man einem Kleinkind einen solchen Eingriff zumuten? Welche Zukunftswege eröffnet oder verschließt man einem Menschen? Familie Baumgart/Geyer hat sich im Fall ihrer vierjährigen Tochter Lilly für das CI entschieden. „Die Skepsis war natürlich vorher sehr groß, es sind ja zwei recht lange Eingriffe am Schädel und dazu noch unter Vollnarkose bei einem Kleinkind“, so der Vater. Einer der entscheidenden Faktoren war für sie unter anderem das Zusammentreffen mit dem Arzt Dr. Müller und dessen Geschichte. Doch vor allem wollten die Eltern dem Kind alle Möglichkeiten für die Zukunft offen halten: „Es ist ja in der heutigen Welt schon so schwer genug, durchzustarten – erst recht für Menschen mit einem Handicap, mit dem der Großteil der Bevölkerung nicht vertraut ist.“
Deafhood-Begründer Paddy Ladd hingegen fordert eine Sperre für CI bei Kindern bis zum fünften Lebensjahr. Diese Zeit sollte genutzt werden, um die physischen, psychischen und sozialen Folgen der OP abzuschätzen. Dr. Boris Müller kann diese Forderung aus medizinischer Sicht nicht teilen: „Wenn man bei einem gehörlos geborenen Kind erst mit dem fünften Lebensjahr implantieren würde, ist das Fenster für die Sprachentwicklung bereits geschlossen und man würde der Person die defizitäre Sprachentwicklung unter Umständen das ganze Leben lang anhören. Auch die spätere schulische Laufbahn leidet dann häufig darunter.“
Doch was ist, wenn die Eltern selbst gehörlos sind? Dr. Michael Wunder, Psychotherapeut und Mitglied des Deutschen Ethikrats, sieht in solchen Ausnahmefällen Gründe zur Differenzierung. Er hat Verständnis für gehörlose Eltern, die ihr gehörloses Kind keinem CI-Eingriff unterziehen: „Kinder sind in einem Alter von sechs Monaten und aufwärts in ihren frühen Entwicklungsjahren. Es ist besser, dass sie in der Welt der Eltern groß werden, statt sofort in die andere Welt hinüber zu wachsen. Später haben sie ja immer noch die Möglichkeit, wenn sie einwilligungsfähig sind, ein Implantat machen zu lassen.“ Die medizinische Notwendigkeit eines frühen Eingriffs sieht er nicht gegeben, aber: „Ein Kind, das frühzeitig, auch trotz Gehörlosigkeit, anfängt zu sprechen und auch eine Hörrückschleife über die eigene Stimme hat, spricht besser als jemand, der das Implantat erst später bekommt.“
Geht der Kampf also weiter? Die Gehörlosenkultur in konstanter Opposition gegen die kulturelle Dampfwalze der hörenden Mehrheit, die jede Minderheit unter sich begräbt? Da sich die Implantate nicht bei jeder Form von Gehörlosigkeit anwenden lassen, werden auch in Zukunft immer Menschen auf die Gebärdensprache angewiesen sein. Des Weiteren gibt es zunehmend CI-Träger, die trotz Implantat weiter die Gebärdensprache nutzen. Für sie ist das Implantat keine Entscheidung für oder gegen ihre kulturellen Wurzeln, sondern lediglich eine Erweiterung der individuellen Möglichkeiten. Auch Ethikrat-Mitglied Dr. Wunder richtet sich gegen die Radikalität der Debatte: „Es gibt doch auch in Deutschland aufwachsende Kinder von türkischen Migranten, hier in Hamburg zum Beispiel, die super Hamburgisch sprechen und trotzdem Türkisch können. Wieso sollte das bei Gehörlosen anders sein? Das liegt doch in der Verantwortung der Eltern.“
Einen Wandel in den Generationen sieht ebenfalls Dr. Müller. War die Haltung vieler Gehörloser gegenüber CI in der Vergangenheit noch von „aggressiver Ablehnung“ geprägt, beschreibt er die Einstellung jüngerer Gehörlosen als „meist viel offener und kommunikativer als die der Älteren“. Ihm selbst sind Gruppen von Gehörlosen, Schwerhörigen und CI-Trägern bekannt, die im gemeinsamen Umgang stets auf die Gebärdensprache zurückgreifen. Es bleibt zu hoffen, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt, sondern um eine generelle Entspannung der Fronten. Denn das Konzept der Deafhood bietet grundsätzlich auch die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Zusammenlebens zwischen Gehörlosen und Hörenden auf gleicher Augenhöhe.
Extreme Vertreter wie Ladd oder Jokinen, die die potentielle Ausrottung ihrer Kultur für die Zukunft prognostizieren oder auf der Gegenseite der Kolumnist Jan Fleischhauer, der die Deafhood-Bewegung lediglich als aufmerksamkeitserheischenden Opferkult abtut, scheinen die Bedeutung des Individuums größtenteils auszublenden. Denn ob und wie sich ein Gehörloser definiert und in sein kulturelles Umfeld eingliedert, ist eine Entscheidung, die ihm selbst obliegt und nicht durch äußeren Zwang und Vorgaben bestimmt werden sollte.
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