Die Diskussionen in der EU sind seit Wochen von der Euro-Krise geprägt. Damit werden andere Probleme überdeckt, u.a. die Politik der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán.
von David
Das Symbol des nationalen Traumas ungarischer Nationalisten ist ein Schloss, das Ludwig XIV. in der Nähe von Paris Ende des 17. Jahrhunderts bauen ließ. Über zwei Jahrhunderte später, am 4. Juni 1920, wurde hier, im Grand Trianon, der Friedensvertrag der Siegermächte mit dem Königreich Ungarn als einem der Nachfolgerstaaten der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Monarchie geschlossen. Ungarn verlor zwei Drittel seines historischen Territoriums an Rumänien wie auch an die neu entstandenen Staaten Tschechoslowakei und Jugoslawien. Vor allem aber lebten von nun an drei Millionen ethnische Magyaren außerhalb Ungarns. Die Bemühungen um eine Revision des Vertrags von Trianon diente dem ungarischen Reichsverweser, Admiral Miklós Horthy, als eine zentrale Legitimation für die Errichtung eines autoritären und antisemitischen Regimes in den 20er und 30er Jahren. Der ungarische Revisionismus gipfelte und scheiterte schließlich in der Kollaboration des Horthy-Regimes mit Nazideutschland. Mit der kommunistischen Machtübernahme Ende der 40er Jahre begann eine lange Zeit der Tabuisierung von „Trianon“. Erst sehr viel später wurde die Frage der Auslands-Ungarn wieder thematisiert und sorgt seit dem Ende des Kommunismus immer wieder für Auseinandersetzungen.
Sissi in Brüssel
Die nationalkonservative Regierung unter Viktor Orbán regiert seit April letzten Jahres mit einer Zweidrittelmehrheit aus Fidesz/Ungarischer Bürgerbund und Christdemokraten und zeigte sich bisher als überaus geschichtsbewusst – im negativen Sinne. International sorgte sie nicht nur mit ihrem umstrittenen Mediengesetz für Empörung. Mit dem Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft Anfang 2011 wurde im Brüsseler Ratsgebäude ein Teppich ausgelegt, auf dem neben historischen Ungarn-Figuren (u. a. Franz/Ferenc Liszt und „Sissi“) auch eine historische Karte Ungarns in den Grenzen von 1848 abgebildet ist. Kritiker sahen den Teppich als offene Provokation und Versuch der Regierung Orbán, den Vertrag von Trianon symbolisch zu revidieren. In Reaktion auf die Kritik jedoch betonte ein ungarischer Regierungssprecher die Bedeutung der Revolution von 1848 als „Völkerfrühling“ und gesamteuropäisches Ereignis und verneinte jeglichen Bezug der Teppichmotive zur Gegenwart.
Die Teppich-Episode mag jenseits ihrer provokanten Symbolik realpolitisch bedeutungslos sein, genauso wie die Ausrufung eines „Tages der nationalen Zusammengehörigkeit“ durch die Regierung Orbán am 90. Jahrestag der Unterzeichnung des Trianon-Vertrags. Dass die Fidesz-Regierung sich jedoch nicht nur auf Symbole beschränkt, hatte sie bereits kurz nach der Wahl demonstriert. Sie beschloss die Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes, um ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern (betroffen sind die Slowakei, die Ukraine, Rumänien, Serbien und Kroatien) die Beantragung einer ungarischen Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Das ungarische Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft markierte das Ende einer eher bi- und multilateralen Politik gegenüber den Nachbarstaaten, wie sie noch in den 90er Jahren üblich war. An deren Stelle trat eine unilaterale Politik der vollendeten Tatsachen, bei der sich die ungarische Regierung eine Schutzmachtfunktion über die magyarische Minderheit im Ausland anmaßt. Besonders die Slowakei reagierte heftig auf diese Absicht, ungarische Verwaltungsverfahren zu „exportieren“. Nebst dem Abzug des Botschafters aus Budapest konterte das Parlament in Bratislava mit der Verabschiedung eines Gesetzes, wonach Slowaken ihre Staatsbürgerschaft verlieren, wenn sie die eines anderen Staates annehmen.
Im Zuge der beunruhigend hohen Ergebnisse der rechtsradikalen Partei Jobbik (12 % der Mandate) bei der ungarischen Parlamentswahl im Frühjahr 2010 sprachen einige Beobachter von einem Versuch der Fidesz, den Rechtsradikalen die „nationalen“ Themen zu entreißen. Dieses Argument ist jedoch hanebüchen. Nationalistische und rechtsradikale Parolen werden nicht dadurch harmloser, dass sie von Volksparteien geäußert werden, ganz im Gegenteil. Ungarn steht damit durchaus nicht als Einzelfall in Europa da. Bislang jedoch einzigartig ist die Annahme einer neuen Verfassung im Schnellverfahren. Im April dieses Jahres verabschiedete das ungarische Parlament mit einer sehr breiten Mehrheit (unter Ablehnung der Jobbik und unter Boykott der Sozialdemokraten und Grünen) das neue „Grundgesetz Ungarns“. Dieses soll die während der Transformation stark überarbeitete Verfassung von 1949 ab nächstem Jahr ersetzen.
Magyaren aller Länder, vereinigt euch?
Besonders das einleitende „nationale Bekenntnis“, in den meisten Verfassungen üblicherweise weniger pathetisch als „Präambel“ bezeichnet, führt tief in die ungarische Vergangenheit und beschwört sie als quasi-sakrale Leidens- und Heilsgeschichte. Während darin die „Heilige Stephanskrone“ unter Bezug auf die Christianisierung Ungarns durch Stephan I. im 11. Jahrhundert zur Repräsentation der Kontinuität und Einheit der magyarischen Nation erklärt wird, lehnt das „Bekenntnis“ den Fortbestand der kommunistischen Verfassung von 1949 ab und erklärt sie für nichtig. Dass damit auch die bisher erfolgreiche Verfassungspraxis im postsozialistischen Ungarn negiert wird, scheint kein Versehen, sondern Absicht zu sein. Das letzte anerkannte Glied in der „Kontinuität“ der ungarischen Nation wäre damit wohl implizit das Horthy-Regime. Denn zugleich werden die „unmenschlichen Verbrechen gegen die ungarische Nation“, die durch das nationalsozialistische und das kommunistische Regime begangen wurden, verurteilt. Die Frage nach der ungarischen Beteiligung an diesen Verbrechen wird damit verfassungsmäßig verdrängt. Das „Bekenntnis“ äußert zudem die Absicht, das ungarische Erbe des Karpatenbeckens (d. h. des Territoriums des historischen Ungarns bis 1920) zu bewahren wie auch die Hoffnung, dass künftige Generationen Ungarn „wieder groß machen“. Mit dem Wissen um das in Ungarn weit verbreitete Trianon-Trauma wirkt dies überaus bedrohlich.
Autoaufkleber – Kitt für eine gespaltene Nation?
Im Schnellverfahren verabschiedet beendet die neue Verfassung zwei Jahrzehnte erfolgreiche Verfassungspraxis seit der Transformation. Die „Revolution an den Wahlurnen“ (Orbán am Wahlabend) hat sich Geltung verschafft. Sicherlich verfügt die Regierung in Budapest trotz aller Kritik und Empörung im europäischen Ausland durchaus über einen erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung. Repräsentationen von Großungarn finden sich nicht nur auf Kleidungsstücken rechtsradikaler Schlägertypen (oder auf Teppichkunst), sondern auch in Form von Mauspads, Autoaufklebern oder Postern in Studentenwohnheimen.
Der konservative Staatsumbau der Fidesz stößt aber auch auf Gegenstimmen und erheblichen Protest, wie Massendemonstrationen und tagelange Mahnwachen gegen das Verfassungsprojekt deutlich machen. Der Boykott der Sozialdemokraten bei der Abstimmung über das „Grundgesetz“ macht dieses zu einer überaus zweifelhaften Grundlage für die Zukunft Ungarns. Der Streit um die Ausrichtung ungarischer Politik wird konfliktreicher und erbitterter, der Graben zwischen dem linksliberalen und dem nationalkonservativen Lager tiefer. Der Umgang mit der nationalen und europäischen Geschichte dient dabei mehr der Polarisierung als der Konsensfindung, sowohl innerhalb der ungarischen Gesellschaft wie auch mit den Nachbarländern Ungarns. Die Regierung Orbán lässt nichts Gutes hoffen.
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