Chroniken eines angekündigten Todes?

Es war einmal ein König. Ein lang regierender König. Ein König, dessen Thron schon oft gewackelt hatte, der schon das ein oder andere Mal von diesem Thron gerutscht war, der sich aber trotzdem immer wieder aufrappeln und den Thron für sich erobern konnte. Es schien fast so, als hätte der König neun Leben. Und dies ist seine Geschichte.

von Rebecca Hinrichs


Seit Jahren spalten sich die israelischen Gemüter an diesem Staatsmann. Gegner nennen ihn zuweilen schon „Crime Minister“ und die Proteste gegen ihn wurden im Jahr 2023 bis zuletzt immer lauter. Benjamin Netanjahu, von vielen „Bibi“ oder gar „King Bibi“ genannt, wird 1949 in Israel geboren. Zwar wächst er anfangs in Jerusalem auf, bald schon folgt aber die Auswanderung in die USA. Bibi wächst zwischen zwei Welten auf, ändert sogar seinen Namen in die amerikanisierte Form „Ben Nitay“, bleibt aber dennoch Israel verbunden. 1967 dient er fünf Jahre in der militärischen Eliteeinheit „Sajeret Matkal“, eine Zeit, aus der er nie müde wird zu erzählen.
Ben Nitay studiert unter anderem in renommierten Häusern der Harvard University und dem MIT, bevor seiner Familie ein starker Schicksalsschlag widerfährt. Der ältere Bruder Jonathan „Joni“ Netanjahu kommt während eines Anti-Terror-Einsatzes in Uganda beim Versuch, israelische Geiseln aus der Hand palästinensischer und deutscher Terroristen zu befreien, ums Leben. Daraufhin folgt die Gründung des dem Bruder gewidmeten Jonathan Institute, das als Konferenzplattform gegen den israelbezogenen internationalen Terror dient. Hierdurch wird der israelische Botschafter in den USA auf Bibi aufmerksam, der ihm kurzerhand eine Stelle als Stellvertreter des Botschafters in Washington anbietet. Der internationale Terrorismus soll Netanjahus Steckenpferd bleiben (bis jetzt).

UN, Untreue und Unterhaltung

Zunächst klettert er weiter die Karriereleiter nach oben – seine nächste Station bei der UN als Vertreter Israels schafft ihm einen internationalen Ruf. Schon hier weiß Bibi sich und sein politisches Handeln richtig zu vermarkten, präsentiert sich bei Auftritten im israelischen Fernsehen gerne als harten, dem sich allem strotzenden Mann, der sich zum Wohle seines Landes jedem Gegenwind entgegenstellt. 1988 kündigt er seinen Eintritt in die israelische Politik an und seinen Job bei der UN auf. In der Zwischenzeit nimmt er Sprechunterricht bei der Kommunikationsexpertin Lyilian Wilder und unterhält ein privates Probestudio für Fernsehauftritte. Das alles kann aber seinen ersten Medienskandal nicht verhindern, der durch die Enthüllungen rund um eine außereheliche Affäre verursacht wird. Schon hier sieht sich Netanjahu erstmals als Opfer einer Schmutzkampagne.
Doch auch das schadet seinem Eintritt in die israelische Politik nicht. Netanjahu geht in einer Zeit in die Politik, in der die israelische Linke an Rückhalt verliert zugunsten der Likud, die als größte Rechtspartei Israels aufsteigen kann. Netanjahus Karriere geht erneut steil bergauf, 1993 wird er Parteiführer des Likuds, 1995 Oppositionsführer gegen die Regierung Rabins. In dieser Position bekleckert er sich allerdings nicht mit Ruhm. Im Zuge des Osloer Friedensprozess gilt er als größter Gegner dessen, veranstaltet ein großes Säbelrasseln gegen den Friedensvertrag und wirft den damaligen politischen Führern des Landes vor, wertvolles Land an die palästinensische Gegenseite zu verschenken und zu verscherbeln. Die dennoch zustande kommenden Oslo Verträge bezeichnet er gar als „beunruhigenden Moment nationaler Demütigung“. Nach dem ersten Sprengstoffattentat der militanten extremistischen Terrororganisation Hamas im Jahr 1995 geht er vollkommen in der Rolle des Oppositionsführers auf, muss sich gar dem Vorwurf stellen, diese Krise für eigene Zwecke auszuschlachten. Unter anderem hält Netanjahu eine Rede auf einer Protestveranstaltung auf der auch der Ruf „Tod Rabins“ ertönt, was im Nachgang sehr zynisch erscheint. Wenige Wochen später wird der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin durch einen jüdischen Extremisten ermordet. Bibi wird für den Tod des Verhandlungsführers im Osloer Friedensprozess mitverantwortlich gemacht, schafft es aber im Zuge dessen, seine Gegnern und vor allem die Medien genau des gleichen Vorwurf zu bezichtigen: das Ausschlachten von Tragödien zu politischen Zwecken. Nichtsdestotrotz werden erste Stimmen im Likud laut, sich von Netanjahu abzuwenden.

Aufstieg und Fall

Dennoch wird Bibi 1996 das erste Mal zum israelischen Ministerpräsidenten gewählt. Seine erste Amtszeit zeichnet sich zunächst durch eine kompromisslose Politik in Bezug auf die Palästinenser aus. Mit Erfolg, denn die Zahl der Sprengstoffattentate nimmt ab. Doch mit der Öffnung eines Klagemauertunnels am Tempelberg nehmen Proteste und Unruhen wieder deutlich zu. Vertrauenswerte in den Medien, der akademischen und öffentlichen Welt Israels nehmen bis 1999 drastisch ab, befeuert durch aufkommende Korruptionsvorwürfe und einer Reihe von weiteren Skandalen. Dagegen kann auch die schön inszenierte Homestory Netanjahus nicht ankommen. Der vorerst endgültige Imageverlust erfolgt im Zuge des Hebron Protokolls und die damit verbundene Teilung Israels, verhandelt auch unter dem Druck der USA. Trotz einer großangelegten Kampagne erfolgt 1999 die erste Abwahl Bibis. Der König fliegt vom Thron.
Die Zeit der politischen Verbannung ist auch die Zeit der Zweiten Intifada und des internationalen Terrorismus, welche das immer schon währende Sicherheitsbedürfnis der israelischen Gesellschaft weiter verstärkt. Hieran erwächst somit das Hauptthema Netanjahus: Sicherheit. Das vorherrschende linke Konzept des Friedens mit den Palästinensern, welcher nur durch die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erreichen sei, wird durch die rechte Ansicht, nur die Stärke und Macht über die Palästinenser könne Sicherheit in der Region schaffen, ersetzt. Bibi treibt die Ansicht von Stärke und Macht mit all seiner Kraft voran. Seine Agenda wird durch eine weitreichende Medienoffensive, realisiert durch eine ordentliche Portion Vitamin B, erleichtert. In den 2000er Jahren stellte Bibi verschiedene Ministerposten, unter anderem den Außen- und Finanzminister. 2006 findet er sich erneut in der Rolle des Oppositionsführers. Der König pirscht sich allmählich zurück zum heißbegehrten Thron.
2009 wird er erneut zum Ministerpräsidenten gewählt und geht eine Koalition mit der ultraorthodoxen Schas Partei und anderen religiösen Parteien ein. Im politischen System Israels sind solche großangelegten Koalitionen durch die niedrige Sperrklausel von 3.25% keine Seltenheit. In seiner Grundsatzrede vor der Bar-Ilan-Universität findet sich die erste Erwähnung eines möglichen palästinensischen Staates, allerdings nur unter erheblichen Bedingungen der Entmilitarisierung und eines ausbleibenden Siedlungsstopps für Israelis in den besetzten Gebieten. Trotz der relativen Sicherheit während seiner Amtszeit gilt er keineswegs als Medienliebling in Israel, wohl auch wegen seiner anhaltenden Kritik, Israels Medien seien insgesamt zu links und einheitlich.
Der König übersteht mehrere Rücktritte und Neuwahlen zwischen 2013 und 2015 und geht sogar mit zwei zusätzlichen Regierungsposten aus der Vertrauenskrise. Unter anderem macht er sich zusätzlich zum Kommunikationsminister. Somit etabliert er sich zum „König Bibi“, wie ihn seine Anhänger bis heute nennen. Beim Thema Siedlungsbau und vor allem einem Rückzug aus den eigentlich palästinischen Gebieten bezieht Netanjahu weiterhin eine harte Position, auch aufgrund des zunehmenden Rechtsrucks des Likuds in den 2010er Jahren.
Außenpolitisch zeigt er sich mit Orbán und Putin, pflegt eine enge Beziehung zu Berlusconi und auch Trump scheint ihm so sympathisch, dass er 2019 eine israelische Siedlung in der West Bank nach ihm benennt. Frieden mit den Palästinensern erscheint für Bibi in weiter Ferne. Vielmehr will man für Sicherheit und Ruhe sorgen, nicht unbedingt für Frieden. Dennoch: Das israelische demokratische System beförderte ihn immer wieder an die Spitze.

Aufrappeln und Absichern

2018 werden erneut Korruptionsvorwürfe wegen Medienbestechung laut, die Polizei empfiehlt der Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren aufzunehmen. Dieses wird 2020 zunächst durch einen Immunitätsantrag abgewendet, jedoch wenig später wieder aufgenommen. Netanjahu bestreitet die Vorwürfe bis heute. Der Prozess läuft nach einer Unterbrechung durch den Angriff der Hamas seit dem 4. Dezember letzten Jahres weiter, ein Urteil steht noch aus. Allerdings stößt auch dies König Bibi nicht vom Thron.
Das geschieht erst 2021, nachdem es ihm nicht gelingt, eine neue Regierung zu formen, und er durch Naftali Bennet abgelöst wird. Doch der König gibt nicht auf und arbeitet an einem erneuten Comeback. Das gelingt ihm durch die Selbstauflösung der Knesset und die anschließenden Neuwahlen 2022, in denen Netanjahu das rechte Lager erfolgreich zur Regierungsmacht führt. Seinen Thron erklimmt er mithilfe einer der rechtesten Koalitionen in der israelischen Geschichte. Hierbei ist das rechts-religiöse Bündnis keinesfalls als monolithischer Block anzusehen. In Bezug auf die Palästinenserfrage beziehen die religiöseren Parteien eine weniger radikale Position als die rechten Anteile der Koalition. Die zersplitterte Parteienlandschaft Israels scheint eben auch solche Koalitionsbündnisse zu befördern, und seit der Zweiten Intifada lässt sich, ebenso wie im Europa der 2010er Jahre, auch innerhalb der israelischen Bevölkerung ein Rechtsruck verzeichnen. Zudem sind Königmacherpositionen ein grunddemokratisches Problem, vor allem in konsensorientierten Systemen wie Israel. Daher war es nicht nur König Bibis Machtinstinkt, der eine solche ultrarechte Regierung zu Tage förderte. Auf der anderen Seite lässt sich eine Abwanderung der Likud-Wähler zu radikaleren, rechten Parteien beobachten, sodass König Bibi für seine Absicherung des Throns auch diese Parteien versucht einzubinden. Nach der Sicht Netanjahus sei der Likud als stärkste Koalitionspartei Wortführer und könne somit das Wirken der rechtsradikalen Kräfte immer noch steuern. Dennoch gilt: Wie man sich bettet, so legt man sich, auch wenn jene Koalition sich auf eine demokratische Legitimierung berufen kann. Gerade die hoch umstrittene Verfassungsreform soll vor allem den rechtsreligiösen Kräften die Hoffnung geweckt haben, mehr Gesetze – selbst welche bereits abgelehnt wurden – in ihrem Sinne durchbringen zu können und eine noch größere Gestaltungsmacht zu erlangen. Es ist also fraglich, ob König Bibi seine Gefolgsleute weiterhin an der Leine halten kann.
Und dann folgte der 7. Oktober 2023, der so viel Leid, so viel Gewalt, so viel Schmerz über die Region brachte. Die Frage bleibt, warum gerade König Bibi, welcher wie kein anderer für die Bekämpfung des Terrorismus steht, den blutigen Hamas-Angriff im Oktober letzten Jahres so kolossal unterschätzen konnte. So habe es konkrete Warnungen aus Ägypten gegeben, die unbeachtet blieben oder falsch eingeschätzt wurden, vielleicht aus einem zu tiefen Vertrauen auf das eigene Sicherheitssystem. Denn auch dafür stand König Bibi seit über 20 Jahren: Sicherheit und Ruhe, aber kein Frieden. Und das scheint ihm auf unglaubliche Weise an jenem Tag aus den Händen geglitten zu sein. Ein politischer Tod trotz Ankündigung. Im Dezember 2023 glauben laut Umfragen nur noch 27% der Israelis, dass sich König Bibi auf seinem Thron halten kann. Kann ihm ein vollkommenes Ausschalten der Terrororganisation Hamas das verlorene Vertrauen zurückbringen oder ist dies der endgültige neunte Tod des Königs?


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