Charles Chaplin, der im April seinen 125. Geburtstag gefeiert hätte, hat vor einem Jahrhundert die Figur des Tramp erfunden – und damit das Kino revolutioniert.
von Richard Siedhoff
Frühjahr 1917, Charlie Chaplin bei Dreharbeiten zu einem neuen Film. Klappe 1: der Tramp in einem Café; neben ihm ein Suppe schlürfender Gast. Sie ist so heiß, dass beide bei jedem Ansetzen des Löffels zusammenzucken. Klappe 54: Immer noch sitzen beide am Tisch, aber jetzt isst Tramp Charlie einen Teller Bohnen – unter Umgehung aller Tischmanieren mit dem Messer. Der Gast geht vor Empörung – Cut! Die Szene geht weiter: Da entdeckt der Tramp eine junge Frau am Nebentisch, bittet sie zu sich und bemerkt plötzlich die Notwendigkeit von Tischmanieren, die er nicht beherrscht.
Was entsteht aus dieser Szene? Eine Komödie über den Tramp in feiner Gesellschaft, deren (Tisch-)Manieren er nicht kennt? Das wusste Chaplin selbst nicht, denn er arbeitete ohne Drehbuch. Ausgehend von einfachen Ideen improvisierte er, bis er das hatte, was er suchte. So auch bei der weiterführenden Idee: Ein anderer Gast hat zu wenig Geld dabei und wird vom dicken Kellner zusammengeschlagen. Der Tramp bekommt ein Problem: ein Loch in seiner Hosentasche – und sein Geld ist weg! Inzwischen ist man bei Klappe 196: Die Szene bekommt Kontur, als der Tramp eine Münze am Boden findet. Der dicke Kellner entlarvt sie jedoch als Falschgeld – der Tramp gerät in zunehmende Bedrängnis. Doch die Szene funktioniert immer noch nicht. Am nächsten Tag dreht Chaplin die komplette Sequenz noch einmal mit einer wesentlichen Änderung: Der furchteinflößende, riesige Eric Campbell, der in vielen frühen Chaplin-Filmen den Bösewicht spielte, übernimmt die Rolle des Kellners. Zehn Minuten Film, für die Chaplin in etwa so viel Filmmaterial verdrehte, wie D. W. Griffith ein Jahr zuvor für sein mehrstündiges Epos Intolerance. So viel Freiheit und Material konnte sich nur Chaplin leisten. Sein Tramp war innerhalb des Jahres 1914 zweifellos nicht nur zur berühmtesten Figur um den Globus geworden, sondern Chaplin selbst ab 1916 der bestverdienende Schauspieler seiner Zeit.
Bescheidene Anfänge
Als der spätere Weltstar am 16. April 1889 als Charles Spencer Chaplin in London geboren wurde, waren seine Eltern noch erfolgreiche Varieté-Stars in den englischen Music Halls. Fehlende Unterhaltszahlungen nach deren Trennung zwangen Mutter, Charlie und den vier Jahre älteren Halbbruder Sidney oft, in Londons Armenhäusern unterzukommen. Als der Mutter auf der Bühne die Stimme versagte, sprang der fünfjährige Charlie ein. Sein erster Bühnenauftritt wurde der letzte seiner Mutter. Sie litt zunehmend an psychischen Störungen und wurde mehrfach eingewiesen. Der Vater starb an Alkoholismus. Um den Londoner Elendsvierteln zu entkommen, versuchten sich Charlie und sein Bruder Sidney auf den Bühnen der Music Halls – mit zunehmendem Erfolg: Mit zwölf Jahren spielte Charlie eine von der Kritik positiv bemerkte Nebenrolle in einer Sherlock Holmes-Inszenierung. Sidney vermittelte ihn daraufhin an Fred Karno, den erfolgreichsten Showman Englands, Chef einer Theatertruppe für komische Pantomimen und Sketche. Bereits 1910 war Chaplin der Star der Truppe und ein gewisser Stan Laurel sein Ersatzmann. Bei einer zweiten Amerika-Tournee im Sommer 1913 wurde er vom Filmproduzenten Mack Sennett abgeworben.
Im Februar 1914 steht Chaplin zum ersten Mal vor der Kamera, als rauer hysterischer Bösewicht in Making A Living. Die Rolle liegt ihm gar nicht und so stellt er sich für den zweiten Film ein Kostüm zusammen, das er bis 1940 fast durchgehend in seinen Filmen tragen wird: Die ausgebeulte Kluft eines umherstreunenden und nach Ansehen strebenden Tramps mit übergroßen Schuhen, Rohrstöckchen und Melone – angelehnt an reale Personen der Londoner Armenviertel. Es ist die genialste Geburt des Kinos: Kid Auto Races at Venice kommt als simpler kurzer Dokumentarfilm eines Seifenkistenrennens daher. Doch die Kamera erfasst in der Menge plötzlich diesen einen Tramp, der – von der Kamera offensichtlich fasziniert – sich immer wieder ins Bildfeld schleicht, posiert und vom Regisseur verscheucht wird. Die ganze Aufmerksamkeit des Filmpublikums bleibt nur an dieser einen Figur haften.
Chaplin missfällt jedoch der hektische Stil der Kurzfilme des Studios von Mack Sennett: Schon ab Mai 1914 steht er gleichermaßen hinter wie vor der Kamera und sitzt außerdem mit am Schneidetisch. Er nimmt den Filmen nach und nach – gegen den Willen des Produzenten – das Tempo und gibt ihnen mehr Inhalt. Der Erfolg sollte ihm Recht geben. Auch wenn uns diese 35 Kurzfilme nach 100 Jahren doch sehr roh, albern und hektisch erscheinen, so finden sich hier die Grundsteine einer für die Filmgeschichte wegweisenden Entwicklung.
1915 – binnen Monaten wurde Chaplin zum Weltstar – kann er sich Zeit nehmen, dreht 15 Filme für die Firma Essenay für eine Wochengage über 1.200 Dollar. Wie seine Kollegen des komischen Films dreht er ohne Buch, improvisiert jedoch bis zur Perfektion. Und hier passiert es: Die Kurzkomödie The Tramp von 1915 bekommt ein tragisches Ende – eine Neuheit in der Geschichte des Genres. Noch nie zuvor hatte jemand ernsthaft versucht, einer Komödie etwas Sentimentales abzugewinnen.
Chaplin revolutioniert den Film
Es folgen seine „glücklichsten Jahre“, 1916 und 1917, in denen er für die Mutual Film Corporation bei einer Wochengage von 10.000 Dollar zwölf Kurzfilme in vollkommener Unabhängigkeit dreht, darunter frühe Meisterwerke wie Easy Street und The Immigrant. In ihnen finden wir den Kanon chaplinesker Komik: subtiler und temporeicher Slapstick gepaart mit ernsthafter Milieuschilderung; gesellschaftliche Missstände, Surrealismus, Pantomime, Sarkasmus, Tragik und Liebe. Man lacht nicht nur, man fiebert mit, man ist ergriffen und erschüttert.
Easy Street (1917) übertrifft alles bisher Dagewesene. Das Slum-Milieu des Films – voller Gewalt, Drogen und Angst – ist der ärmlichen East Street nachempfunden, die Chaplin aus Kindertagen allzu gut kannte. Im Film entspinnt sich hier ein alptraumhafter Kampf zwischen David und Goliath – zwischen dem geläuterten Tramp als ahnungslosen Polizisten und dem vom bulligen Eric Campbell verkörperten Über-Bösewicht. Am Ende siegt das Gute und Chaplin inszeniert eine utopische Idylle: Eine saubere Straße, einstige Raufbolde friedlich auf dem Weg in die Kirche – ein Wunschtraum Chaplins, der zunehmend als Botschafter der Menschlichkeit wirkt, während in Europa der Krieg tobt. Chaplin wird kritisch.
Von unterschwelliger Kritik lebt auch die eingangs beschriebene Sequenz im Restaurant, ein Meilenstein des komischen Films und noch viel mehr – Chaplin stellte sich die simple Frage: Wo kommen die beiden Protagonisten eigentlich her? Erst daran anschließend dreht er die erste Hälfte des Films; der Film wird The Immigrant heißen – der Tramp und die junge Frau sind bettelarme Passagiere eines Immigrantenschiffs. So bekommen Charlies Verhalten im Café und der nervenzerreißende Kampf um die Münze plötzlich einen sozialkritischen Hintergrund.
Das Tragische im Film ist jedoch das Schicksal selbst: Auf dem Schiff hat die junge Frau eine kranke Mutter – später im Café taucht diese nicht mehr auf. Beim Wiedersehen dort nimmt der Tramp die Hände der Frau und bemerkt das verweinte Taschentuch. Er begreift: Nun ist sie Waise. Chaplin erzählt ohne Umschweife mit einer einzigen Geste mehr als jeder Zwischentitel vermocht hätte. Ein kurzer Moment voller Tragik, der alles Weitere rechtfertigt, den Kampf um das Geld, die Angst und die Hoffnung. Es bleibt die wichtigste Erfindung Chaplins: Zusammenhänge durch Andeutungen zu erzählen. Eine Methode, die spätestens nach seinem Drama A Woman of Paris (1923) die Filmsprache revolutionierte und von Regisseuren wie Ernst Lubitsch übernommen wurde. Chaplin war der erste, der die Komödie ernst nahm; er gab dem Genre, was ihm bisher fehlte: Tragik.
Hier enden nun also Chaplins Lehrjahre; es begann die Zeit seiner großen Meisterwerke, die wir heute kennen – von The Kid (1921) über The Gold Rush (1925) bis zu The Great Dictator (1940) und darüber hinaus. Doch noch immer lohnt ein Blick auf Chaplins erste Schritte, die vor 100 Jahren begannen. Chapeau dem Humanisten im Humoristen!
Richard Siedhoff (27), gebürtiger Weimarer, ist freiberuflich als Stummfilmpianist, Theatermusiker und Barpianist tätig. Er arbeitete als Cutter in Leipzig und studierte anschließend Musikwissenschaft, Kulturmanagement und Filmwissenschaft an der HfM Franz Liszt Weimar und der FSU Jena.
richard.siedhoff[ät]web.de
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