Albert Camus schuf mit seinem Roman Der Fremde ein einflussreiches Werk, das eine ganze Generation prägen sollte. Der Geist der Vorlage wurde in der gleichnamigen Graphic Novel adäquat adaptiert – allerdings bietet sie keine neuen Erkenntnisse.
von LuGr
„Ich habe gedacht, dass immerhin ein Sonntag herum war, dass Mama jetzt beerdigt war, dass ich wieder zur Arbeit gehen würde und dass sich eigentlich nichts geändert hatte.“ – Sätze wie dieser des Schriftstellers Albert Camus atmen den Geist des „absurden Lebens“, indem sowohl Leid als auch Elend unausweichlich und sinnlos sind – ebenso wie ein einzelnes Menschenleben. Camus wurde 1913 in Mondovi in Algerien geboren, der Comic-Illustrator Jacques Ferrandez 1955 in der algerischen Hauptstadt Algier. Und obwohl einige markige Sätze wie das Zitat oben es nicht in seine Graphic Novel-Version von Camus‘ bekannten Roman Der Fremde geschafft haben, ist die Liebe zum Detail in Inhalt und Stimmung bei der Adaption beeindruckend. Der exakte Wortlaut der Vorlage wurde über weiteste Strecken übernommen, nur an wenigen Stellen wurden Details ausgelassen oder neu hinzugefügt. Ferrandez‘ Zeichnungen atmen mit ihren an den Impressionismus erinnernden Panoramen, in zarten Pastelltönen als Grundfarben, den sonnendurchfluteten und aufgeschlossenen Geist des philosophischen Mittelmeerdenkens von Camus. Während der erste Teil mit der Einführung von Ich-Erzähler und Protagonist Meursault, dem Anbändeln mit seiner Liebschaft Marie und einer folgenschweren Begegnung mit einem Araber am Strand mit wenig Text auskommt, gerät der zweite Teil um die Verhöre, um Meursaults Atheismus und seinen Mord-Prozess umso reichhaltiger an Sprechblasen. Hier schaut Ferrandez entsprechend der Vorlage auch durch innere Monologe stärker in die Seele des Protagonisten, seine Weltsicht, die stellvertretend für die des Existenzialismus ist. Meursault wirkt wie eine leere Hülle von einem Menschen, der ein austauschbares Leben führt, in dem für ihn nichts von großer Bedeutung ist – auch nicht der Tod seiner Mutter oder der drohende eigene, der nahezu zwangsläufig eintreten muss. Dem Grübeln in der dunklen Gefängniszelle stellt Ferrandez dabei in seinen Panels immer wieder das sonnendurchflutete Algerien mit dem sorglosen Leben und seinen schweißgebadeten Figuren gegenüber.
Eine Graphic Novel, die zwar Camus-Kennern keine neuen Deutungsweisen vorlebt, aber Neulesern den Einstieg durch die zugänglichere Form des illustrierten Buches erleichtert. Noch mehr wurde diese Publikation diesem Zweck jedoch gerecht, wenn Jacoby & Stuart noch einen kurzen, in die philosophische Strömung des Existenzialismus einführenden Essay vorangestellt hätte. Denn das ist die Schattenseite dieser an sich lobenswerten Veröffentlichung: Sie bleibt in Hinblick auf ihre literarische Vorlage uneingeordnet, unerklärt – und der Neuleser kommt um Sekundärliteratur nicht herum.
Jacques Ferrandez:
Der Fremde
Verlagshaus Jacoby & Stuart 2014
128 Seiten, durchgehend farbig
24,00 €
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