Wir beenden das Jahr mit einem Blick auf einen über 90 Jahre alten Text in einem der schönsten Bücher des Jahres 2016.
von Frank
„Das Programm ist bestialisch wie nie“, schrieb das Feuilleton der FAZ in diesem Frühjahr über die Veröffentlichungen der Verlage im Bücherfrühling um die Leipziger Buchmesser herum. Während das Animalische aber vielleicht nur ein kurzfristiger Eindruck bleiben sollte, zeichnet sich ein anderer Trend schon seit Längerem ab: Es ist die (neue?) Lust am schön gestalteten Buch, auch abseits schwerer Bild- und Fotobände. Vielbeachtet wurde dabei etwa das 500-seitige S. – Das Schiff des Theseus von J. J. Abrams und Doug Dorst, hierzulande erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, das in limitierter Auflage mit beiliegenden Postkarten, Briefen und gar einer beschriebenen Serviette daherkam – eine „Jubelfeier auf das Buch als physisches Objekt“, wie es im Chicago Tribute treffend hieß.
Ansprechende Physis statt hoher Auflage: Limitierte Originalausgaben, Leinenbindung und Umschlagprägung, Lesebändchen oder ein schicker Schuber sind da schon fast das Mindeste, was man geboten bekommt. Freilich hat derartige Ausstattung auch ihren Preis. Allerdings haben einige Verlage längst ein bibliophiles Publikum diesseits der Altersmargen von Ü50 entdeckt, das in seinem Kaufverhalten durchaus weg vom 9,95 Euro-Taschenbuch strebt. So etwa Die Andere Bibliothek, die von Berlin aus „lebendige Buchkörper zum Anfassen und Lesen unter dem Signum des Kometenschweifs“ unters Lesevolk bringt, oder die in Frankfurt ansässige Edition Büchergilde, der man Klassiker in schönen Neuausgaben verdankt, beispielsweise Heinrich Manns Professor Unrat und nun auch Michail Bulgakows Das hündische Herz, erstmals anhand des Typoskripts letzter Hand ins Deutsche übertragen.
„Tja, Doktor Bormenthal, schade um den Köter! Er war ein ganz treuer, dieser Schlawiner.“
Bulgakow, vor allem bekannt durch sein Lebenswerk Meister und Margarita, erlebte die Veröffentlichung eben jenes Werkes ebenso wenig wie die von Das hündische Herz, als er mit nur 49 Jahren starb. Dass er Medizin studiert hatte, macht sich anhand der detaillierten Beschreibungen medizinischer Handlungen und Organe in Das hündische Herz bemerkbar, in dem der angesehene Chirurg Filipp Filippowitsch dem Straßenhund Lumpi die Hirnanhangdrüse und Hoden eines Kleinkriminellen einpflanzt, um so eine Transformation des Tieres in Menschengestalt hervorzurufen. Filipp Filippowitsch muss sich bald fragen, wie er mit seiner vorlauten „Kreation“ umzugehen gedenkt. Der temporeiche Roman erinnert mit dieser Handlung an mancher Stelle an Mary Shellys Idee eines neuen Prometheus – mitsamt kritischem Blick auf einen blinden Fortschrittsglauben. Als „ätzende Attacke auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse“ komme das Buch „auf keinen Fall für eine Veröffentlichung in Betracht“, schrieb das kommunistische Parteimitglied Lew Kamenew. Und in der Tat blieb das Buch, verfasst von Januar bis März 1925, der Zensur wegen unveröffentlicht und kursierte zu Bulgakows Lebzeiten nur in unautorisierten Samisdat-Abschriften. Der Originaltext existiert in drei vom Autor selbst diktierten Typoskripten (das letzte entstand zwischen 1929 und Bulgakows Tod im Jahre 1940). Zuerst veröffentlicht wurde das Buch dann 1968, ausgerechnet in Westdeutschland, in einer Zeitschrift eines sowjetischen Exilverlags, allerdings auf Basis einer unautorisierten kursierenden Textfassung.
„Laborhund ca. 2 Jahre alt. Rüde. Rasse: Promenadenmischung. Name: Lumpi. Das Fell spärlich, in Büscheln, bräunlich und gefleckt, Schwanz kondensmilchfarben. Auf der rechten Seite Spuren einer komplett verheilten Verbrühung.“
Dies und viele weitere Details erfährt man im lesenwerten Nachwort – mit der spielerischen Überschrift „Cave Canem!“ – des Übersetzers Alexander Nitzberg, der 2013 für seine Übertragung von Bulgakows Meister und Margarita für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert war. Eigentlich macht schon allein die Publikationsgeschichte des Romans (oder eher: die Geschichte seiner Nicht-Publikation) diese Ausgabe von Das hündische Herz, von Nitzberg erstmals anhand des Typoskripts letzter Hand aus dem Russischen übersetzt, zu etwas Besonderem für Literaturfreunde. Zu einem echten Kleinod wird sie aber dank der wunderbaren Ausgestaltung: Anmerkungen des Übersetzers sowie Hinweise zur Textbearbeitung, zu früheren Fassungen und Streichungen, sind dezent in den Seitenaufbau eingepasst. So manche dieser Hinweise sind für den Normalleser auch dringend nötig; ohne Kenntnisse der Epoche und der russischen Gesellschaft an sich versteht man viele von Bulgakows Anspielungen und Spitzen schlichtweg nicht. Auch wird wohl das sprunghafte, nicht selten in (hündischen) Ich-Gedankenfetzen beschriebene Szenario der winterlichen Stadt (teilweise hat man Bilder eines Animationsfilms im Kopf, eines düsteren zwar, aber auch witzigen) anfangs nicht jeden einen Zugang finden lassen.
„Wiederholter und planmäßiger Unterricht im WC-Besuch. Das Personal ist vollkommen deprimiert. Doch die Lernfähigkeit der Kreatur ist beachtlich. Es geht voran.“
Auch wird viel mit Sprache gespielt, etwa im zweiten Kapitel, in dem Hund Lumpi lesen lernt anhand dessen, was er in den Straßen Moskaus so sieht und erlebt. Nicht bloß aus Bulgakows sehr dichten Beschreibungen ergibt sich eine besondere Herausforderung für jeden Übersetzer; bisweilen sind es auch einfach die Konnotationen von Begriffen, an denen uns Nitzberg auch in seinen Anmerkungen teilhaben lässt. Etwa, wenn im Original recht willkürlich von braunem Terror die Rede ist „was im Deutschen freilich eine vollkommen andere Assoziation auslösen würde“ (Nitzberg nutzt darum in seiner Übersetzung eine andere Farbe: Lila).
Neben dieser wertvollen Arbeit des Übersetzers ist es vor allem die ebenso kreative wie vielschichtige Bebilderung von Christian Gralingen, Kommunikationsdesigner und Illustrator, der unter anderem für The New Yorker arbeitet. Seine zum Teil sogar doppelseitigen Illustrationen enthalten, passend zur Thematik des Romans, allerlei Formelzeichen, Pfeile und Schaltsymbole und erinnern an eine Mischung aus avantgardistischer 20er-Jahre-Kunst und technische Zeichnungen. Zusammen mit der atemberaubenden Umschlaggestaltung und der Typografie machen sie Das Hündische Herz zu einem der schönsten Bücher des Jahres 2016, das eigentlich viel zu schade ist, um einfach irgendwo im Bücherregal eingesperrt zu sein.
Michail Bulgakow:
Das Hündische Herz. Eine fürchterliche Geschichte
Edition Büchergilde 2016
176 Seiten
24,95 €
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