Hochwasser und politischer Stillstand

(Foto: privat)

Bosnien erlitt Anfang 2014 schwere Flutschäden ­– nicht nur materiell, sondern auch politisch. Ein Jenaer Doktorand berichtet von seinen Eindrücken und die unique sprach mit dem Thüringer Georg Schiel, der sich vor Ort für behinderte Menschen einsetzt.

von Sebastian Goll

Im Mai 2014 erlebten die Menschen in Bosnien und Herzegowina sowie in Serbien ein Jahrhunderthochwasser. Rund 50 Personen kamen ums Leben, Millionen waren betroffen und Zehntausende mussten vor dem Wasser flüchten. Als das Hochwasser zurückging, waren ganze Landstriche vollkommen zerstört. Straßen und Schienen waren aufgrund von Unterspülungen nicht mehr passierbar, Schlammlawinen hatten Häuser zugeschüttet, Minen aus dem Bürgerkrieg waren aus der Erde gewaschen worden und bedrohten die Hilfsmaßnahmen. Viele Menschen mussten so schnell flüchten, dass sie ihr Hab und Gut nicht mehr retten konnten. Bauern verloren mitunter ihren gesamten Viehbestand und mussten sich nun vor Seuchen fürchten. Vor allem die Schäden an der Infrastruktur waren verheerend und dürften die wirtschaftliche Entwicklung immens aufhalten.
Bosnien und Herzegowina standen nun vor der Herausforderung des Wiederaufbaus – eine Aufgabe, der die ineffiziente und korrupte Verwaltung nicht gewachsen war und ist. So begannen die Menschen in Bosnien und Herzegowina in Eigenverantwortung und ohne staatliche Koordinierung die Aufräumarbeiten. Diese Not erzeugte auch Solidarität über ethnische, bosnisch-serbische Grenzen hinweg: Personen verschiedener Volksgruppen fuhren in die jeweils anderen Landesteile und halfen sich im Rahmen der Aufräumarbeiten zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Ansonsten aber ist das Land immer noch gespalten durch einen Nationalismus, der auch politische Reformen verhindert und das Land oft unregierbar macht.

Bosnischer Frühling?
Dabei hatte das Jahr 2014 durchaus hoffnungsvoll für Bosnien und Herzegowina begonnen. Die politischen Eliten und die von ihnen kontrollierte Verwaltung im bosnisch-kroatischen Landesteil sahen sich im Februar 2014 mit andauernden Protesten in allen größeren Städten konfrontiert. Es wurde gar von einem „bosnischen Frühling“ gesprochen.

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Allerdings ließ sich die Spaltung des Landes auch während der Proteste beobachten: Obwohl die soziale Situation im serbischen Teil des Landes – der Republik Srpska – nicht besser ist, blieben die Demonstrationen auf die bosnisch-kroatischen Gebiete begrenzt. Serbischen Politikern gelang es, diese Proteste als nationalistisch darzustellen. Es falle den serbischen politischen Eliten auch deshalb so leicht, die nationale Karte zu spielen, weil viele Menschen mit serbischen Wurzeln verbittert seien, erklärt Aleksandar Vranjeć, Politikwissenschaftler aus Banja Luka (Republik Srpska). Verbittert, weil die einseitige Sicht vieler europäischer Länder auf die Konfliktursachen im Balkanland nicht ihren Erfahrungen entspricht.
Trotzdem schien es so, als ob die Proteste vom Jahresanfang nicht nur ein kurzes Aufflammen von Wut und Verzweiflung waren. Immerhin bildeten sich in einigen Städten „Plenen“, die als Schattenparlamente eine basisdemokratische Alternative zur korrupten Verwaltung etablieren sollten. Menschen jeglicher Couleur trafen sich in öffentlichen Gebäuden und debattierten über die Zukunft Bosniens. Was konkret aus diesen Plenen hervorgehen würde, war unklar. Trotzdem erschien es so, als ob die jahrzehntelang schlafende Zivilgesellschaft endlich erwachen würde und die anstehenden Parlamentswahlen ließen Hoffnung aufkeimen. Dann kam das Hochwasser.
„Die Flutkatastrophe war ein Grund für das Ende der Protestbewegung, weil die meisten Menschen danach mit der Rettung ihrer Habseligkeiten beschäftigt waren“, beurteilt Zlatiborka Momčinović im Gespräch mit uns die politische Lage nach dem Hochwasser. Die Soziologin forscht an der Universität in Sarajevo in Genderstudies und sozialen Bewegungen und ist durch ihre Medienauftritte zu Themen wie Frauenrechten bereits stadtbekannt. Gleichzeitig war sie aber auch aktiv an den Protesten in Sarajevo beteiligt, die in erster Linie sozial motiviert gewesen seien: „In Bosnien lebt man von Tag zu Tag. Eine normale Lebensplanung ist nicht möglich“, erläutert sie die Motive der Demonstranten. Auch die Löhne für gut ausgebildete Menschen sind in Bosnien extrem niedrig. An den Protesten beteiligte sie sich nicht nur deswegen: „Teile der Medien und Politiker wollten die Demonstrierenden als arbeitsscheue Hooligans darstellen. Das hat mich wütend gemacht und motiviert.“

Selber anpacken
Dass sich die politischen Parteien und Verwaltungen eher um sich selbst kümmern als die sozialen Nöte der Bevölkerung anzugehen, konnte das Graduiertenkolleg sehr eindrücklich beim Besuch einer jungen Roma-Familie in Sarajevo erfahren. In einem Außenbezirk der Stadt entschloss sich diese auf eigene Faust und mit finanzieller Hilfe aus Deutschland einen Kindergarten aufzubauen, in dem Roma-Kinder einen geregelten Tagesablauf mit regelmäßigen Mahlzeiten bekommen. Bald gab es auch Anfragen aus Familien anderer Bevölkerungsgruppen, ob man die Kinder nicht in diese Betreuungsstätte schicken könne, denn das gesamte Erziehungssystem ist unterfinanziert.
Solche Probleme wurden auch nach den Parlamentswahlen im Herbst nicht angegangen: Es gewannen wieder die nationalistischen Parteien im Land. Allerdings ging kaum mehr als die Hälfte der Bevölkerung zur Wahl und zahlreiche Stimmen wurden ungültig abgegeben – das schlechte Katastrophenmanagement hatte die staatliche Legitimität offensichtlich noch weiter unterhöhlt. Zu den etablierten Parteien gebe es momentan allerdings keine glaubwürdigen Alternativen, meint Momčinović.
Für den Wiederaufbau des Landes nach der Flut war die Wahl kein gutes Vorzeichen. Vor allem für die schwächsten Teile der Bevölkerung sind die Folgen immer noch spürbar. In Maglaj, 150 Kilometer nördlich von Sarajevo, hatte die Flut die gesamte Stadt überschwemmt. Betroffen war unter anderem ein Förderzentrum für Menschen mit Behinderung, in weiter Umgebung das einzige seiner Art. Seit 2006 haben hier rund 60 Kinder und Erwachsene einen Ort gefunden, an dem sie sich entfalten und Freundschaften schließen können. Seine Existenz verdankt es unter anderem der Initiative des Thüringers Georg Schiel, der seit 1998 in Bosnien und Herzegowina lebt und an der Umsetzung sozialer Projekte in verschiedensten Institutionen arbeitet. Sein Engagement für Menschen mit Benachteiligungen im Land brachte ihm das deutsche Verdienstkreuz am Bande ein. Mit Unterstützung einer Marburger NGO hatte er das Zentrum aufgebaut, doch nun sind durch die Flut sämtliche Räumlichkeiten und Unterrichtsmaterialien zerstört; der Unterricht muss in Übergangsräumlichkeiten stattfinden. Aufgrund der fehlenden staatlichen Unterstützung ist das Heim auf Eigeninitiative und Solidarität angewiesen. Man sieht Georg Schiel an, dass ihn die Hürden der Bürokratie zermürbt haben, aber die Menschlichkeit ihn zum Weitermachen treibt. „Aus Gründen der Vetternwirtschaft sitzen ehemalige Fahrkartenverkäufer auf Posten, die ein Studium erfordern“, berichtet er uns sichtlich frustriert.
Der politische Stillstand im Land lähmt bislang jede Initiative, doch die Tragik der Flutkatastrophe hat einige Menschen über die Grenzen hinweg geeint und so Kontakte zwischen den Ethnien geschaffen. Die Proteste haben das erste Mal seit langer Zeit gezeigt, dass gemeinsames Engagement für eine andere Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina möglich ist. Dies könnte ein Signal für die Zivilgesellschaft und die politische Elite gewesen sein.

Das DFG-Graduiertenkolleg 1412 unterstützt den Wiederaufbau des Heims in Maglaj mit einer Spendenaktion auf der Plattform „Betterplace“:
tinyurl.com/pkchlzl

Sebastian Goll (33) hat Soziologie an der TU Dresden, der Philipps-Universität Marburg und der Universität des Westens in Temeswar (RO) studiert, und promoviert am DFG-Graduiertenkolleg 1412 in Jena zu Rechtsextremismus in Südosteuropa. Im September 2014 nahm er an einer Studienreise des Kollegs nach Bosnien und Herzegowina teil.
Kontakt: s.goll[at]uni-jena.de


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