von Christian Franke
Am besten fängt man klein an, wenn man Balancieren lernen möchte, und nimmt sich langsam Größeres vor. So schien es eine gute Idee, eine Recherchefahrt der Deutschen Jugendpresse mit dem Titel „Balanceakt. Türkische Jugend abseits der Medien.“ im Berliner Bezirk Kreuzberg, welcher schon längst das Prädikat „Kleines Istanbul“ zugesprochen bekommen hat, zu beginnen, um anschließend das große Istanbul zu bereisen Die 16 journalistisch ambitionierten Teilnehmer merkten während des achttägigen, Mitte September stattfindenden Projekts recht schnell, dass diese quantitative Steigerung noch längst nicht mit einer inhaltlichen einhergehen muss.
Am ersten Abend trafen wir uns mit Mitgliedern des Berliner Vereins „DeuKische Generation“, um mit diesem am Abend gemeinsam das Fasten zu brechen. Obwohl nur einer der Anwesenden fastete, warteten trotzdem alle aus Respekt bis zu dem Zeitpunkt des Fastenbrechens mit dem Essen. Die Mitglieder des Vereins sehen sich selbst weder als integrationsunwillige Türken, die in Isolation leben wollen, noch als Vorzeigetürken, die vollständig integriert sind. Diejenigen, die wir kennen lernen durften, lernten wir als Persönlichkeiten mit individuell unterschiedlichen Werdegängen kennen, die eines eint: Das Dasein als Mensch mit deutschen und türkischen Eigenschaften – deukisch eben. Und in einem waren sich auch alle einig: Sie wären gerne nach Istanbul mitgekommen.
Zwei Tage später landeten wir dort und es regnete. Das war kein besonders freundlicher Empfang. Wenige Stunden später, als wir zusammen mit einheimischen Türken eine erste Erkundungstour unternahmen, sah die Welt jedoch schon wieder anders aus. Wir kamen wohl so richtig in Istanbul an, als wir auf dem Flachdach eines alten Wohnhauses die melodischen Aufrufe zum Gebet durch die ganze Stadt schallen hören konnten.
Anderntags besuchten wir die Bosporus-Universität und lernten dabei eine ganz andere Seite der Türkei kennen. Die kopftuchtragenden Muslime durften an diesem ersten Tag des neuen Semesters das Universitätsgelände nicht betreten; am Eingang stand Sicherheitspersonal. Demonstrierendes Klatschen begleitete die Ankunft von Fahrzeugen, in denen Universitätsmitarbeiter oder andere Studierende saßen. Schließlich erzwangen die Muslime den Zutritt zur Uni, indem sich die Männer mit Gewalt eine Schleuse durch die Sicherheitsbeamten bahnten. Die aufgeladene Stimmung passte eigentlich gar nicht zu den schönen alten Universitätsgebäuden, zwischen denen parkähnliche Grünanlagen zum Verweilen einluden.
Einige Projektteilnehmer nahmen spontan am Deutschunterricht teil und machten dabei die Bekanntschaft mit jungen Türkinnen, mit denen wir uns unterhalten konnten, da sie aufgrund jahrelangen Schulunterrichts sehr gut Deutsch sprachen. Sie haben mit den islamischen Studierenden, auch wenn sie mit diesen zusammen in Vorlesungen sitzen, nichts zu tun und heißen deren Teilnahme am universitären Betrieb größtenteils auch nicht gut. Die Kontroverse um das Prinzip der laizistischen Staatsführung der Türkei wurde hier besonders deutlich.
Ein ganz ähnliches Bild der Brisanz hinterließ unser Besuch des Pfarrers der Evangelischen Gemeinde in Istanbul. Am Gebäude befinden sich Kameras, der türkische Sicherheitsdienst ist, wenn nötig, in nicht einmal zehn Minuten vor Ort, was bei der Verkehrslage im riesigen Istanbul einem Wunder gleichkommt. Überhaupt muss Holger Nollmann viel mehr Zeit und Energie in Sachen investieren, mit denen sich in Deutschland kein Pfarrer beschäftigen müsste. Als etwa Angela Merkel zu Besuch kam, war das Klo kaputt und der Pfarrer musste dieses aufgrund der eventuellen Nutzung desselben durch unsere Bundeskanzlerin noch schnell reparieren. Er bewerkstelligte die Reparatur und das Benutzen von Seife und Waschbecken noch vor der Ankunft der Kanzlerin, war aber nach deren Besuch schon ein wenig enttäuscht, als diese seine Arbeit nicht im vollen Maß würdigen konnte, da sie das WC nicht aufsuchen musste.
Neben rein informativen Sachen waren es vor allem solche Anekdoten, die unsere Recherchefahrt zu einer echten Bereicherung machten. Wir mussten nicht vor der Fassade der touristischen Türkei stehen bleiben, sondern bekamen die Gelegenheit, am türkischen Leben verschiedenster Menschen teil zu haben. Dies wurde überraschenderweise auch dadurch begünstigt, dass wir mit den meisten Menschen, die wir trafen, deutsch sprechen konnten. Viele der in Deutschland sesshaften Türken führen ein viel konservativeres Leben als ihre Landsleute in der Heimat. Das „Kleine Istanbul“ Kreuzberg unterscheidet sich also doch gewaltig vom Großstadtmoloch Istanbul. Einige Istanbuler etwa mögen das Etikett des Berliner Bezirks gar nicht und verneinen den dadurch gezogenen Vergleich.
Wir haben das Balancieren in der viel zu kurzen Zeit des Projekts wohl nicht lernen können, allerdings eine Ahnung davon bekommen, was das überhaupt bedeutet: Balancieren zwischen hier und dort; zwischen Deutschland und Türkei.
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