Eine Initiative formiert sich in Thüringen – für Weltoffenheit, Differenzierungsmöglichkeit und kritische, multiperspektivische Geschichtsarbeit.
von Sebastian Dorsch, Pauline Lörzer und Florian Wagner
Nach der Landtagswahl vergangenen Jahres haben sich im November 2019 in Thüringen tätige Historiker*innen zusammengefunden, um kritische Geschichtsforschung zu verteidigen und der neu auflebenden Geschichtsklitterung aus (neo-)völkischen Kreisen entgegenzutreten. Bis heute haben sich mehr als achtzig historisch arbeitende Institutionen, Vereine und Individuen der Initiative Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen (kurz: HiWelt) angeschlossen. Darunter befinden sich Vertreter*innen von Museen, Geschichtsvereinen, Archiven, Gedenkstätten, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Forschende an den Historischen Seminaren der Universitäten Erfurt und Jena sowie weltoffene Menschen aus verschiedenen Ländern.
Schon in der Entstehung hat sich gezeigt, wie relevant das Thema für viele Menschen mit historischem Interesse ist, ganz unabhängig von ihrem Arbeits- und Wirkungsfeld. Bereits die Resonanz nach der ersten Anfrage von möglicherweise interessierten Personen und Gruppen war überwältigend. So schlossen sich nicht nur Universitätshistoriker*innen an, sondern in der ersten Stunde auch historisch interessierte Privatpersonen, Studierende, Lehrer*innen, Vereine wie die Thüringische Vereinigung für Volkskunde e.V., der Heimatbund Thüringen und Distanz e.V., ein Verein der Jugendlichen zum Ausstieg aus rechtsextremen Kreisen verhilft. Natürlich waren auch Vertreter*innen der wichtigsten Gedenkstätten und kulturellen Einrichtungen dabei, so wie Jens-Christian Wagner (neuer Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora), Annegret Schüle (stellvertretende Direktorin Geschichtsmuseen der Landeshauptstadt Erfurt) oder Hasko Weber (Generalintendant Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar).
Durch ihren Zusammenschluss will HiWelt öffentlich machen, was sich in ihrer täglichen Arbeit mit historischen Quellen immer wieder bestätigt: Vielfalt, in welcher Form auch immer, ist die Voraussetzung für ein friedliches und gutes Zusammenleben von Menschen. Dies gilt umso mehr für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, deren globale Vernetzung zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Gleichwohl lernt man aus der Geschichte und aus der Gegenwart, dass offene Gesellschaften und globale soziale Gerechtigkeit immer wieder neu erstritten und verteidigt werden müssen.
Ideologien, die auf gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beruhen, die bestimmte Gruppen als „die Anderen“ ausschließen und ein Trugbild von ethnischer Reinheit in die Welt setzen, missachten dabei Ergebnisse der historischen Forschung: Kategorien wie „Ethnie“, „Rasse“ oder auch „Nation“ sind nicht natürlich in der Welt, sondern sie sind menschengemachte Konstrukte. Solche Ideologien, die in Thüringen vor allem in Form von (neo-)völkischen Phantasien auftauchen, widersprechen also in eklatanter Weise den Ergebnissen akribischer und quellenkritischer Forschung. Darum ist es den Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen ein Anliegen, deutlich zu machen, wie wenig solche Exklusionsphantastereien mit den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaften zu tun haben. Pseudo-historiographische Pamphlete, wie sie auch in Thüringen produziert wurden, sind das Gegenteil jeglicher quellenkritischen Methode, wie sie Historiker*innen wissenschaftlich anwenden.
Die Initiative Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen wendet sich darum auch gegen Versuche, die kritische und multiperspektivische Geschichtsarbeit in Thüringen zurückzudrängen, und durch Provokationen in Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen zu unterlaufen. Ebenso weist sie darauf hin, dass Weltoffenheit und Differenzierungsfähigkeit nicht nur eine Bedingung für eine funktionierende Gesellschaft sind, sondern auch die Voraussetzung, um historische Phänomene adäquat zu untersuchen und zu erklären. Es geht dabei um einen Weitblick, der es ermöglicht, historische Entwicklungen aus möglichst vielen Perspektiven zu beleuchten und verstehen zu können. Lokale Geschichte ist dabei nur in ihrer globalen Vernetzung zu verstehen – und lokale Geschichten machen umgekehrt die Globalgeschichte aus. Die Akzeptanz von Migration und die Auseinandersetzung mit globalen Strukturen helfen uns, die Welt und ihre Geschichte(n) besser zu verstehen. Migration ist darum genauso ein konstitutives Element unserer Gesellschaften wie das An-Einem-Ort-Bleiben. Beide gegeneinander auszuspielen ist irreführend und historisch inkorrekt, da sie schon immer koexistierten und produktiv wirkten. So ist die Offenheit gegenüber migrantischen Perspektiven eine unabdingliche Voraussetzung für kritische Wissensproduktion. Um einen Rückfall in völkische Zeiten zu verhindern, sprechen sich die Historiker*innen darum für ein globales Bewusstsein, für Weltoffenheit und für soziale Gerechtigkeit in Thüringen und darüber hinaus aus.
In Zukunft wird die Initiative sowohl als Ansprechperson für historisch Interessierte und Initiativen zur Verfügung stehen als auch selbst aktiv an die Öffentlichkeit treten. Erste Tagungen und Veranstaltungen werden gerade organisiert. Anfang September fand zum Auftakt eine vielbeachtete Pressekonferenz statt, Anfang Oktober folgte ein erstes großes Vernetzungstreffen unter Corona-Voraussetzungen. Mitglieder von HiWelt treten öffentlich und parteiungebunden bei Veranstaltungen auf und beziehen Stellung. Weitere Handlungs- und Veranstaltungsformate werden sich im Laufe der Arbeit herauskristallisieren. Dafür arbeiten die Mitglieder bisher erfolgreich in verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen.
Die Initiative lädt alle historisch Interessierten und Arbeitenden ein, daran mitzuwirken; Kontaktdaten finden sich auf der Homepage www.weltoffenes-thueringen.de
PAULINE LÖRZER
ist Volkskundlerin und Leiterin des Stadtmuseums Camburg.DR. SEBASTIAN DORSCH
ist Koordinator des Forschungsprojekts »Was ist westlich am Westen?« an der Universität Erfurt.DR. FLORIAN WAGNER
ist Akademischer Rat in der Zeitgeschichte an der Universität Erfurt.
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