Aids und das geteilte Deutschland

Von der „tödlichen Seuche“ zum „Aids-Wunder“: Titelbilder des SPIEGEL von 1983 (oben links) bis 1997 (unten rechts)

Aktuellen Umfragen zufolge ängstigt Aids die Deutschen kaum noch. In den 1980er Jahren hingegen löste die Krankheit in der Bundesrepublik Hysterie und politische Kämpfe aus. Aber auch das DDR-Gesundheitswesen fürchtete den tödlichen HI-Virus.

von Henning Tümmers

Ende der 1970er Jahre blickte die Medizin optimistisch in die Zukunft. Maßgeblich dazu beigetragen hatte der soeben erzielte Sieg über die Pocken, eine seit Urzeiten grassierende Seuche. Nun sah es so aus, als könne die moderne Wissenschaft die Natur bezwingen. Diese Euphorie währte indes nur kurz, denn Anfang der 1980er Jahre konfrontierten schwerkranke Patienten ihre Ärzte mit rätselhaften Symptomen. Im Sommer 1981 veröffentlichte die US-Seuchenschutzbehörde einen Bericht über fünf junge Homosexuelle, die gravierende Immundepressionen zeigten. In den Monaten darauf stieg die Zahl der Fälle, bei denen die körpereigene Abwehr zusammenbrach, weiter an. 1982 bezeichnete das US-Gesundheitswesen jene Erkrankungen als „Aids“ (Acquired Immunodeficiency Syndrome). Dieses Akronym marginalisierte sukzessive frühere Begriffe wie „gay cancer“, die mit Blick auf die „Hauptbetroffenengruppe“ geprägt worden waren. Als wenig später dann auch Kinder, Frauen und heterosexuelle Männer erkrankten, kommunizierten Ärzte Aids als eine Bedrohung für die gesamte Gesellschaft. Überdies bezeichneten sie dieses Phänomen als eine medizinische Anomalie – schließlich konnten sie die Krankheit nicht mit ihrem etablierten Fachwissen erklären. „AIDS – Something New Under the Sun“ titelte dementsprechend 1983 eine medizinische Fachzeitschrift.
Parallel dazu griff die westdeutsche Presse das Thema auf und begann, Aids in einem Atemzug mit tödlichen Seuchen wie Pest und Cholera zu nennen. Aber auch medizinische Fachzeitschriften prognostizierten eine „Epidemie“, die unaufhaltsam über Deutschland hereinbrechen werde. Was die Autoren solcher Artikel einte, war die Prognose einer bevorstehenden Katastrophe.

Aidspolitik in beiden deutschen Staaten
Zeitgleich diskutierten Politiker in Bonn und Ost-Berlin Gegenmaßnahmen. Allerdings sollte es in der Bundesrepublik noch Jahre dauern, bis die Regierung der Öffentlichkeit ein inhaltlich geschlossenes Präventionskonzept präsentierte. Grund hierfür waren emotionsgeladene Kontroversen, in deren Mittelpunkt einerseits die Frage nach einem effizienten „Seuchenschutz“, andererseits die nach Sicherung der bürgerlichen Grundrechte stand. Folglich spaltete sich die politische Klasse zum einen in Vertreter einer „liberalen“ Gesundheitspolitik, die Aufklärungsaktionen und die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen Homosexueller begrüßten. Zum anderen machten Verfechter „seuchenpolizeilicher“ Maßnahmen in den Reihen der CSU von sich reden, die auf Basis des Bundesseuchengesetzes von 1961 eine namentliche Meldepflicht und die Isolation Betroffener forderten. Abgesehen davon bedrohte die durch Aids katalysierte Diskriminierung Infizierter die gesellschaftliche Ordnung: Die Hälfte der Bürger sprach sich aus Angst vor Aids für verpflichtende Reihenuntersuchungen aus und somit Betroffenen jedwede Solidarität ab.
1987 verabschiedete Bonn eine Koalitionsvereinbarung und ein „Sofortprogramm“. Diese Papiere zementierten die Grundsätze einer „liberalen“ HIV-Prävention: Da keine Therapie existierte, genoss die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung Vorrang vor Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger. Die Beschlüsse befürworteten eine „umfassende Aufklärungskampagne“, plädierten für die Intensivierung der Forschung und eine Zusammenarbeit mit Selbsthilfeorganisationen homosexueller Männer. Die Bundesregierung appellierte zugleich an die Bürgerinnen und Bürger, sich zu informieren und eigenverantwortlich zu schützen. Im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Lernprozesses sollte Sexualität, aber auch Verantwortung anderen gegenüber, gleichsam neu gelernt werden. „Freiwilligkeit“, „Eigenverantwortlichkeit“ und „Kooperationsbereitschaft“ avancierten zu den zentralen Säulen der Bonner Aidspolitik, die restriktiven Plänen eine Absage erteilte. Bei alldem hatte auch die deutsche Vergangenheit eine Rolle gespielt. Denn Zwangsmaßnahmen galten bei der Mehrheit der Parlamentarier aufgrund der Verfolgung Homosexueller im „Dritten Reich“ als verwerflich; stattdessen vertraute man auf die Vernunft des Einzelnen. Noch im gleichen Jahr folgte die Kampagne „Gib AIDS keine Chance“, außerdem stärkte die Regierung die Position der Deutschen Aids-Hilfe (DAH), die seit 1985 mit ihren Vertretern in Kontakt stand. Während die DAH offiziell Homosexuelle und Drogensüchtige über HIV aufklären sollte, adressierte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Informationen an die restliche Bevölkerung.

„Was ist AIDS?“ – Postwurfsendung an alle 27 Millionen Haushaltungen (1985)

Jenseits der innerdeutschen Grenze hingegen kamen für die DDR-Regierung Kooperationen mit Selbsthilfegruppen nicht infrage. Kontaktaufnahmen vonseiten einzelner Mediziner sah die 1983 gegründete „Aids-Beratergruppe“ des Ministeriums für Gesundheitswesen ungern. Vielmehr lautete eine interne Anweisung, um Unruhe zu vermeiden: „Vorerst keine Öffentlichkeitsinformationen!“ Gleichzeitig galt in den Augen der Verantwortlichen die DDR als „epidemiologische Insel“, auf der „Auswüchse“ des Kapitalismus (wie eine Drogen- oder Rotlichtszene) nicht Fuß fassen konnten. Für Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger schien sich der Jahrzehnte zuvor etablierte Slogan „Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe“ nun einmal mehr zu bewahrheiten. Konsequenterweise stilisierten die Gesundheitsbehörden Aids zu einem Instrument im „Systemwettstreit“ beider deutscher Staaten. In Mecklingers Ministerium hieß es: „Aids wird als eine Herausforderung an die gesamte Gesellschaft angesehen. Damit erhält auch die Aids-Forschung eine politische Dimension. Welches gesellschaftliche System ist in der Lage, dieser Bedrohung erfolgreich zu begegnen?“
Daneben waren weitere Unterschiede zwischen den deutsch-deutschen „Systemgegnern“ zu beobachten. Während der Westen „Vertrauen“ zum Leitsatz erhob, setzte die DDR auf „Kontrolle“. Fortan wurde das Serum von Blutern und Gastarbeitern im Rahmen von Routineuntersuchungen heimlich auf HIV getestet, und „Antikörperträger“ sollten gegenüber ihren Ärzten die Namen ihrer Sexualpartner offenlegen. Anschließend erfolgte eine entsprechende Meldung an die Staatliche Hygieneinspektion in Ost-Berlin. Überdies existierten strenge Verhaltensvorschriften, deren Missachtung die Justiz sanktionierte. So mussten sich Infizierte einer monatlichen ärztlichen Kontrolle unterziehen und Intimpartner über ihre Infektion informieren. Geschlechtsverkehr durften sie nur mit Kondom ausüben. Auch zeigten sich Unterschiede in der Frage der „Hauptbetroffenengruppen“: In der DDR waren dies nicht Homosexuelle und Drogensüchtige, sondern heterosexuelle Gastarbeiter aus Afrika. Obwohl die Aids-Beratergruppe 1986 erst 23 Infektionen zählte, wies sie mit deutlichen Worten gegenüber dem Politbüro auf die Gefahren für die Gesamtbevölkerung hin. Daraufhin verlangte Erich Honecker 1987 den Anschluss an internationale Studien und die Erarbeitung eines „Maßnahmeplans“. Das ein Jahr später vorgelegte Dokument beinhaltete unter anderem Anweisungen für die Aufklärung der Bevölkerung und diverse Forschungsprojekte. Zugleich spiegelte es einen Wahrnehmungswandel: War die Erkrankung bis dahin vor allem als medizinisches Problem perzipiert worden, verbreitete sich nun sukzessive die Auffassung, man habe es mit einem im Verhalten des Bürgers begründeten Problem zu tun, das nur mithilfe eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes gelöst werden könne. Hieraus wiederum erwuchs die Bereitschaft, mit Staaten wie der Bundesrepublik zu kooperieren, die ungleich mehr Erfahrungen mit HIV hatten machen müssen. Dass die Verantwortlichen in der DDR nun zunehmend ihre HIV-Vorsorge auf das „präventive Selbst“ ausrichteten und sich an Westdeutschland orientierten, demonstrierte 1988 übrigens auch die Übernahme des berühmten Slogans „Gib AIDS keine Chance“ durch das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden.

Politisches Tauwetter
Unterdessen waren Kooperationspläne zwischen der DDR und einzelnen Bundesländern geschmiedet worden: Wiederholt hatte der bayerische Staatssekretär Peter Gauweiler das energische Handeln Ost-Berlins gegenüber HIV-Positiven gelobt und es zum leuchtenden Vorbild für sein Bundesland erklärt; 1987/88 vereinbarte man gemeinsame Forschungen. Ebenso ging der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine auf Honecker zu. Überdies intensivierten sich auch auf Regierungsebene die deutsch-deutschen Beziehungen. Nachdem Rita Süssmuth ihren Gesundheitsminister-Kollegen Mecklinger 1986 nach Bonn geladen hatte, bereiste sie im April 1988 die DDR. Abgesehen von Gesprächen über Aids nutzte sie dabei die Gelegenheit, um für eine engere Verbindung zwischen beiden Staaten einzutreten. So pochte sie auf „eine Ablösung des Geistes der Konfrontation durch die Offenheit von Kooperation, hin zum freien Austausch von Informationen und Meinungen und nicht zuletzt zu ungehinderten Begegnungsmöglichkeiten der Menschen“.
Letztlich fanden bis 1989 nur wenige Tagungen unter deutsch-deutscher Beteiligung statt. Gleichwohl war die durch Aids evozierte Bedrohungswahrnehmung für das Verhältnis beider Länder zueinander nicht folgenlos geblieben: Das Gefühl von Betroffenheit, das die Ausbreitung von HIV dies- und jenseits der Elbe zeitigte, hatte ein Aufeinanderzugehen der „Systemgegner“ bewirkt. Die Begegnungen zeichneten sich durch eine große Symbolkraft aus – die Öffentlichkeit interpretierte sie als „Ausdruck der Friedenspolitik“. Hierbei diente der Dialog über Aids zugleich als Einfallstor, um anderweitige politische Forderungen zu stellen.
Nach dem Mauerfall vollzog die ostdeutsche HIV-Prävention einen radikalen Kurswechsel. Aus Angst vor überbordenden „Aids-Wellen“ suchten die DDR-Experten verstärkt die Hilfe bundesdeutscher Organe. Um das Bundesgesundheitsministerium nicht zu verprellen, kassierte Mecklinger jene restriktiven Maßnahmen, die jahrelang die Aidspolitik der DDR geprägt hatten. Es folgten ein Machtzuwachs der bis dahin ignorierten Selbsthilfegruppen sowie ein Transfer der Bonner Aidspolitik in die neuen Bundesländer. Mitte der 1990er Jahre änderte sich ein weiteres Mal die Bedrohungswahrnehmung: „Die Katastrophe wird abgesagt“ titelte Die Zeit. Die einstige Hysterie schien verflogen, die Fallzahlen blieben stabil, und Medikamente, die das Leben Infizierter verlängerten, eroberten den Markt. In der Folge begann eine Phase, geprägt von einer Perzeption, wonach die Deutschen in Aids nicht länger eine tödliche „Epidemie“ sahen.

Henning Tümmers ist Privatdozent am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. Demnächst erscheint im Wallstein Verlag sein Buch Aids. Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland.
Kontakt: henning.tuemmers[at]uni-tuebingen.de


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