Die Armut von Ländern ist nicht nur eine wirtschaftliche Frage, sondern auch eine Frage der Bewertung durch andere Volkswirtschaften. Das Buch Die Welt neu bewerten zeigt, wie nötig eine alternative Praxis zum Bruttoinlandsprodukt ist.
von Martin
Welchen Wert hat ein Gemeinwesen? Diese Frage ist zentral für die Entstehung und Verteilung von Wohlstand und Armut. Wesentlich für die ökonomische Entwicklung und Prosperität eines Landes bzw. Gemeinwesens ist seine Bewertung durch andere Länder und durch Institutionen wie UN, Weltbank oder IWF – und zwar ausschließlich nach finanziellen und ökonomischen Kriterien. Wichtigster Indikator ist dabei das Bruttoinlandsprodukt (BIP): Es gibt den Wert aller Waren und Dienstleistungen an, die innerhalb eines Jahres in einem Land produziert wurden und ist damit der Gradmesser für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. So ist es wenig verwunderlich, dass Staaten wie die USA oder Deutschland seit Jahrzehnten das Ranking anführen und damit als die erfolgreichsten, wohlhabendsten und am weitesten entwickelten Länder der Erde angesehen werden, während Länder wie Afghanistan oder Tansania zu den Schlusslichtern gehören. Wohlstand und Lebensqualität werden damit ausschließlich anhand der Wirtschaftskraft bewertet, doch kann damit wirklich ein Land angemessen bewertet werden und welche Folgen hat die negative Bewertung für die sogenannten Entwicklungsländer?
Der Entwicklungsökonom und langjährige Kritiker des BIP Alexander Dill, geht in seinem Buch Die Welt neu bewerten – Warum arme Länder arm bleiben und wie wir das ändern können dieser Frage nach. So beschreibt er auf einem Streifzug durch die Geschichte der Weltbewertung nicht nur, wie das BIP und verwandte Indikatoren entstanden sind, sondern auch, welche politischen und ökonomischen Interessen hinter ihrer Durchsetzung stehen. So beschreibt der Autor am Beispiel von Tansania – einem Land mit hoher Alphabetisierungsrate, einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 65 Jahren, einem zwar bescheidenen, aber stabilen Pro-Kopf-Einkommen und einer hohen sozialen wie politischen Stabilität – wie diese Praxis aus einem sicheren und stabilen afrikanischen Land ein scheinbar unterentwickeltes Land macht, dass weit hinter Krisen- und Kriegsländern wie Bangladesch oder Syrien liegt. Dies liegt vor allem daran, dass Tansania über eine ökonomisch „wenig produktive“ Agrargesellschaft aus Kleinbauern verfügt, die zwar einen relativ hohen Lebensstandard sichern kann, aber natürlich nicht mit den großen Industriestaaten mithält. Aus Sicht der Weltbewerter ist Tansania damit ein ökonomisches Entwicklungsland, das vor allem über Strukturreformen – wie Privatisierungen – seine Attraktivität für internationale Investoren verbessern müsse, um sich ökonomisch weiterentwickeln zu können. An diesem Beispiel wird erkennbar, dass die damit verbundene finanzielle Entwicklungshilfe traditionelle Strukturen zerstört, Kleinbauern landlos macht und den Staat zu Verschuldungen zwingt. Der Autor zeigt damit, wie über die Praxis der rein quantitativen Bewertung von Gemeinwesen wesentliche Kriterien für Lebensqualität ausgeblendet werden und Armut so erst geschaffen wird.
Dill formuliert daher in seinem Buch eine grundlegende Kritik dieser Bewertungspraxis und plädiert für eine Überwindung materieller Maßstäbe und eine andere Form der Bewertung, die auf sozialen und qualitativen Indikatoren beruht. Wichtig seien vor allem Kriterien wie Sicherheit, Lebenszufriedenheit, sozialer Zusammenhalt oder Gastfreundschaft, die in der Lage sind, die eigentliche Lebensqualität eines Gemeinwesens jenseits ökonomischer Maßstäbe auszudrücken – leider bleibt der Autor hier eine nähere Bestimmung der „Messbarkeit“ dieser Kriterien schuldig. Außerdem wird deutlich, dass in alternativen Ranglisten wie dem World Happiness Report häufig die als solche abgestempelten Entwicklungsländer die vorderen Plätze belegen, während hier die Industrieländer über großen Nachholbedarf verfügen. Der Autor zeigt mit seinem Buch daher auf spannende und lesenswerte Weise, wie Bewertung und Armut zusammenhängen und wie letztere durch eine andere ökonomische Praxis der Weltbewertung verringert und überwunden werden könnte.
Alexander Dill:
Die Welt neu bewerten – Warum arme Länder arm bleiben und wie wir das ändern können
Oekom 2017
202 Seiten
14,95 €
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