Neue Filme für neue Menschen

Szene aus "Der Mann, der sein Gedächtnis verlor" (© absolut Medien GmbH)

Von frivolen Sexkomödien über die halluzinierenden Odyseen Kriegstraumatisierter bis zu stalinistischem Tränendrücker-Kitsch – eine DVD-Edition lädt in acht Filmen zu einer kursorischen Reise durch das sowjetische Kino der Jahre 1924-1932 ein.

von David

Für viele westliche Zuschauer erscheint es heute unvorstellbar, dass Filme aus Osteuropa für irgendjemanden eine größere Bedeutung haben oder gehabt haben könnten – oder dass Hollywood nicht immer das unumstrittene Filmzentrum der Welt war. In den 1920er Jahren stand das sowjetische Kino dem US-amerikanischen, französischen und übrigens auch dem deutschen Kino in Erfindungsreichtum, künstlerischer Kreativität und visueller Tollkühnheit in nichts nach. Eine DVD-Edition beleuchtet unter dem etwas nichtssagenden Titel Der neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland die aufregendste Phase des frühen sowjetischen Kinos in vier abendfüllenden Spielfilmen sowie vier dokumentarischen bzw. animierten Kurzfilmen und macht deutlich, dass Film aus der frühen UdSSR weit mehr war als Eisenstein, Potjemkin und die Hafentreppe Odessas.
Völlig jenseits von revolutionärem Pathos erzählt Abram Rooms Bett und Sofa (1927, Original: ‚Tretja Meschtschanskaja’) von einer intimen Dreiecksbeziehung: Die Eheleute Kolja und Ljuda leben in einer engen Moskauer Einraumwohnung – und nehmen trotzdem bereitwillig Koljas ehemaligen Armeekameraden Wolodja als Untermieter auf. Wolodja und Ljuda beginnen eine Affäre, als Kolja einige Tage wegen seiner Arbeit verreist – und bei dessen Rückkehr beginnt eine komplizierte Dreiecksbeziehung, angesiedelt zwischen Bett und Wohnsofa, die erst endet, als die schwangere Ljuda beide Männer verlässt. Bett und Sofa erstaunt (zumal für einen sowjetischen Film von 1927) mit einem bemerkenswert offenen und doch unsensationalistischen Blick auf sexuelle Beziehungen. Vierzig Jahre vor der 68er-Bewegung wird in ausgelassenen Bildern freie Liebe zelebriert – gleichwohl Kolja erst einmal nichts zu lachen hat und sich in der engen Wohnung die Ohren zuhalten muss, während sich Wolodja und Ljuda zwei Meter so turbulent vergnügen, dass sie dabei die ganze Einrichtung zum Beben bringen. Das, was aus heutiger Sicht für 1927 wie eine ungeheuerliche Grenzübertretung wirkt, läuft letztlich im Hintergrund eines Filmes, der mit jedem einzelnen Bild eine ausgelassene, fröhliche Atmosphäre voller Lebensfreude ausstrahlt: der rege Trubel in den Straßen Moskaus, das Gefühl absoluter Freiheit bei einer Tour mit einem Kleinflieger über die Stadt, die Vorfreude auf einen schönen Tee mit Marmelade. Die exzellente Begleitung des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff unterstützt vorzüglich die besondere Stimmung von Bett und Sofa.
Nicht weniger großartig, aber vollkommen anders präsentiert Der Mann, der sein Gedächtnis verlor (1929, Original: ‚Oblomok imperii’) den „Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland“: Der Film, inszeniert vom ehemaligen Tschekisten Fridrich Ermler, inspirierte bei seinen Aufführungen in den USA möglicherweise Charlie Chaplin zu seinem „Großen Dikator“. Im Ersten Weltkrieg verliert der Soldat Filimonow bei einer schweren Verletzung Gedächtnis und Verstand und „verschläft“ dabei die Russische Revolution. Erst ein vage bekanntes Gesicht in einem vorbeifahrenden Zug – das seiner Ehefrau – bringt ihn nach zehn Jahren wieder zu sich. In Petrograd, das jetzt Leningrad heißt, sucht er nach seiner Frau und entdeckt mit erstaunten Augen ein revolutioniertes Land. Und vor den ebenso erstaunten Augen des Zuschauers entspinnt sich ein bizarrer und eigensinniger Film, der scheinbar Unvereinbares zusammenbringt. Filimonow wird gegen Ende des Films ganz „intuitiv“ zu einem eifrigen Stalinisten, der verbürgerlichten Kulturfunktionären auch mal Feuer unterm Hintern macht. Als Filimonow bei seinem ehemaligen Arbeitgeber vorbeischaut, blickt die Kamera dennoch voller Zärtlichkeit in das traurige, unrasierte Antlitz des „gefallenen“ Fabrikbesitzers. Zärtlich-lyrische Bilder, etwa eines schwerverletzten Soldaten, der sich an den Zitzen einer Hündin labt, reihen sich neben Surrealistischem und Groteskem, etwa einem Wegekreuz, an dem ein Jesus mit Gasmaske hängt. Im zweiten Teil macht sich Der Mann, der sein Gedächtnis verlor die Naivität und Unwissenheit der Hauptfigur zueigen und nicht nur für propagandistische Zwecke: die Leninstatue, die anstelle der Zarenstatue steht, verblasst für Filimonow gar, wenn er in der Straßenbahn die erstaunlich kurzen Frisuren und noch kürzeren Röcke seiner sowjetischen weiblichen Mitmenschen bewundert. Das Leben neu zu entdecken ist die eigentliche „Revolution“ in diesem Film.
Sehenswert sind auch die beiden Zeichentrickfilme Der Samojedenjunge und Der schreckliche Wawila und Tante Arina. Letzterer handelt von weiblicher Emanzipation im russischen Bauerndorf und ist damit thematisch meilenweit entfernt von den kurzen Animationsfilmen, die ein damals noch unbekannter Walt Disney in den USA fertigte – die fröhlich tanzenden Besen und Eimer wären allerdings auch dort nicht entwurzelt gewesen. Für weniger Begeisterung sorgen hingegen Das Leben in der Hand, ein Trinker-Drama in einer Arbeiterkommune, und Der Weg ins Leben um die Rehabilitation krimineller Jugendlicher: Beide zeigen eindrucksvoll, dass kitschig-überkandideltes Melodrama-Kino nichts war, was „bourgeoisen“ Filmländern vorbehalten blieb. In beiden visuell uninteressanten Filmen dürfen Nebenfiguren „fröhlich“ sterben, damit sich andere Figuren und der Zuschauer dank ihres Todes in Trauer „ergötzen“ können – ein Zynismus im Stile christlicher Märtyrer-Ikonografie, der durchaus auch in westlichen „message films“ zu finden ist und andererseits wunderbar zum frühen Stalinismus passt.
Diesem Wermutstropfen zum Trotz ist die Edition Der neue Mensch schon alleine für die (Neu)entdeckung von Bett und Sofa und Der Mann, der sein Gedächtnis verlor ein kleiner Triumph für die hiesige Filmkultur.

Die Doppel-DVD Der neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland ist erschienen bei absolut Medien (www.absolutmedien.de).


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