Vor über 30 Jahren wurde von Neil Postman mit Amusing Ourselves To Death eine zeitlose Kulturkritik verfasst. Die steile These: Das Elend der Menschheit lauert hinter freundlichen Gesichtern in den Nachrichten – nicht schnauzbärtigen Diktatoren.
von gouze
Winston Smith und Bernard Marx stehen an entgegengesetzten Enden zweier dystopischer Visionen: Der eine ist Parteimitglied in einem totalitären Polizeistaat und mit der Korrektur früherer Zeitungsartikel beschäftigt, der andere arbeitet als Schlaf-Lern-Experte an der Spitze eines hoch technologisierten Weltstaates, der Genuss über alles stellt. Winston ist der Protagonist von 1984, ein Roman, dessen Name heute synonym für staatliche Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers und die zunehmende Überwachung des öffentlichen Raums steht. Brave New World, die andere Vision, gehört zwar auch zum Kanon der großen Dystopien, bietet Zeitgenossen aber wenig Anlass, sie als die Blaupause für eine gegenwärtige gesellschaftliche Negativentwicklung zu betrachten.
Als Neil Postman, Kommunikationswissenschaftler und Medienkritiker, 1985 seine Bedenken über das Fernsehen in der modernen Konsumgesellschaft zu Papier brachte, hatte er dabei verblüffenderweise das Leben von Bernard Marx vor Augen. Er unterscheidet zwischen der Orwellschen Vision der Zukunft, in der totalitäre Regierungen den Einzelnen entrechten und der von Aldous Huxley, in der Menschen sich durch stetige Tabletteneinnahme in die Glückseligkeit therapieren. Für ihn stellte der Unterhaltungsanspruch des Fernsehens ein Prä-Soma dar, ein Einlullungsinstrument, das Menschen dazu verleitet, ihre Rechte erst gar nicht wahrnehmen zu wollen. Spricht aus Postman die Angst vor technologischem Fortschritt? Ist er ein Salonkonservativer, der in Innovationen eine Bedrohung der menschlichen Natur sieht und sie deswegen kategorisch ablehnt? Nein, so einfach ist es nicht. Er ist keineswegs ein älterer Mann, der sich von der zunehmenden Geschwindigkeit der Welt abgehängt fühlt. Er ist weniger ein Skeptiker neuer Technologien, als ein um die Bewahrung menschlicher Kreativität und Urteilskraft besorgter Intellektueller. Dabei findet er es keinesfalls bemängelnswert, dass Fernsehen selbstverständlich auch triviale Unterhaltung bedeutet. Gegenstand seiner Kritik sind die vermeintlich gehobenen Fernsehformate, die den Selbstanspruch haben, Informationen aufzubereiten und über wichtige Ereignisse zu informieren. Ihm dienen die Nachrichten als eindrückliches Beispiel: „Unser Fernsehapparat sichert uns eine ständige Verbindung zur Welt, er tut dies allerdings mit einem durch nichts zu erschütternden Lächeln auf dem Gesicht. Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.“ Alle Informationen – nukleare Aufrüstung, Sportergebnisse, Präsidentschaftswahlen, das Wetter – werden in einem gleichgültigen und gleichförmigen Nebeneinander präsentiert. Es gibt keinen Platz für Kontextualisierung, das Thema wechselt alle zwei Minuten und hinterlässt einen umfangreich uninformierten Zuschauer. Informationsaufnahme wird Teil der Konsumkultur, Befriedigung erfolgt unmittelbar nach der Einnahme – Verdauung nicht notwendig. Daher stellt Postman die Art, wie wir Informationen aufnehmen, mit der Einnahme der Lustdroge Soma aus Brave New World gegenüber – ein treffender Vergleich.
Erwartungsgemäß wurde diese polarisierende Beurteilung der Gegenwartskultur mit lautem Zu- wie Widerspruch aufgenommen. Bis heute wird über das zum Standardwerk gewordene Amusing Ourselves To Death vortrefflich gestritten. Zeigt es doch, dass auch die Zukunftsbefürchtungen aus Huxleys schöner neuer Welt sich (noch) nicht überlebt haben.
Neil Postman:
Amusing Ourselves To Death
The New York Times Company 1985
184 Seiten
16,00 $
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