„Russland ist absolut pro-europäisch“

Vor der Podiumsdiskussion (Foto: Bastian Stein)

Kann man mit einem Vertreter des russischen Staates über die Krim, EU-Sanktionen und das deutsche Russlandbild sprechen, ohne zu dämonisieren oder zu idealisieren? Ein journalistisches Experiment.

von Heide, Stefan & Frank

„Ich fühle mich an den Kalten Krieg erinnert.“ – ein fragwürdiger Vergleich, der dieser Tage häufig zu hören ist, wurde angesichts der unvereinbaren Standpunkte auch vom Zuhörer einer Podiumsdiskussion zum Thema „Die Europäische Union und Russland – eine komplizierte Beziehung“ gewählt. Hatte es zu Beginn fast gewirkt, als seien sich der Bundestagsabgeordnete Johannes Selle (CDU) und der russische Botschaftsrat Mikhail Grabar in ihren Plädoyers für den Frieden vollends einig, zeigte das Thema Ukraine, wie weit der Wille zum Frieden und die politische Praxis auseinander liegen.
Vor der Veranstaltung hatten wir Grabar zum Interview getroffen. Da die Medienberichterstattung wiederholt unter dem Verdacht der Einseitigkeit steht, stellt sich die Frage: Wie gehen wir, als Medium, mit seinen Aussagen um? Letztlich können auch wir an dieser Stelle nur eine Seite betrachten. Darum entschieden wir uns, zwei Russland-Experten um ihre Einordnung zu bitten: Gemma Pörzgen, freie Journalistin für Print und Rundfunk mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Außenpolitik und Medien, sowie den promovierten Russlandhistoriker Reinhard Krumm, Leiter des im März 2017 eröffneten Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien. Grundsätzlich negierten die Interviewpartner den Vorwurf der einseitigen Berichterstattung, wiesen jedoch auf fehlende Perspektivwechsel hin.
Diplomatie dient nicht der Wahrheit. Wenn weder die ukrainische noch die russische Administration von einem Krieg reden, hat das nichts mit Desinformation zu tun: Pörzgen und Krumm betrachten es als unproblematisch, dass russischen Diplomaten – wie denen anderer Staaten auch – natürlich daran liegt, die Sichtweise auf die eigene Regierung positiv zu halten und ihre Sicht der Dinge zu verbreiten. „Schwierig wird es, wenn sich diese interessengeleitete Information mit journalistischen Inhalten vermischt und für den Medienkonsumenten verschleiert wird“, so Pörzgen. Krumm gibt zudem zu bedenken: „In der jetzigen Diskussion über erfundene Fakten geht es über reine Interessenvertretung jedoch hinaus“, und ergänzt: „Staatliche Vertreter Russlands, aber eben auch anderer Staaten, haben in den vergangenen Jahren öffentlich unwahre Aussagen getroffen.“ Das beträfe den US-amerikanischen Vorwurf, der Irak besäße Massenvernichtungswaffen genauso, wie den russischen Vorwurf an deutsche Behörden, im Falle des Mädchens Lisa untätig gewesen zu sein – „obwohl schon damals bekannt war, dass es keinen Fall Lisa gibt.“ Mit Blick auf den Vergleich zu früheren Regierungen fügt er an: „Regierungen in Moskau und ihre Behörden haben immer versucht, Einfluss auf den westlichen Diskurs zu nehmen. So wie übrigens auch westliche Staaten auf die Sowjetunion und Russland.“

Botschaftsrat Michail Grabar im unique-Interview

Im aktuellen Diskurs über das angespannte Verhältnis Russlands zur Europäischen Union sind immer auch die Ukraine und die Ereignisse auf der Krim ein zentrales Thema. Im Interview entgegnet Botschaftsrat Mikhail Grabar auf die Frage nach Lösungsansätzen sehr bestimmt:
„Das ist keine Frage an uns – sondern an die EU. Nicht wir haben die Beziehungen unterbrochen… Wer da den Fehler gemacht hat, der muss diesen Fehler korrigieren. Nicht wir haben Sanktionen verhängt. Nicht wir haben die Ukraine zerstört. Nicht wir haben den Putsch in Kiew legitimiert.“

Man spüre, so Grabar, dass auch die europäischen Partner die Notwendigkeit zur Normalisierung der Beziehungen und zu sachlichem Dialog erkennen. „Wir sind dazu bereit“ – diesen Satz hören wir mehrfach im Gespräch, wie auch in der späteren Podiumsdiskussion. Ein ähnliches Argumentationsmuster begegnet uns beim Blick auf das Verhältnis zur neuen US-Administration: Die gegenwärtige Lage entspräche nicht der Normalität. Die andere Seite sei vom Normalzustand abgewichen und sie müsse das korrigieren, nicht Russland. Ähnlich beim Thema Visa-Freiheit:

Wären Visa-Erleichterungen für russische Bürger ein Ansatz, um das Verhältnis zu Russland wieder zu verbessern?
„Wir waren mit der EU in Verhandlungen über die Visa-Freiheit. Die Europäische Union hat diese Verhandlungen unterbrochen. Und da bin ich wieder überfragt. (lacht) Wir sind bereit, weiterzumachen. Sehen Sie: Ich finde die Situation etwas absurd, wenn zum Beispiel über Visa-Freiheit mit der Ukraine gesprochen wird, wo Bürgerkrieg herrscht, wo die Kriminalitätsrate extrem hoch ist, wo der Staat zerstört ist und die Wirtschaft zerstört ist.“

Seit unserem Gespräch ist die Visa-Freiheit für Ukrainer inzwischen in Kraft getreten. Indes wird in Teilen des Landes weiter gekämpft. Als wir den Botschaftsrat auf das Vorgehen der ukrainischen Regierung in den separatistischen Gebieten ansprechen, verweist er auf grundsätzlich unterschiedliche Verständnisse und ihre sprachliche Manifestierung:
„Wir müssen zuerst die Begriffe klären. Man nennt diese Menschen hier im Westen Separatisten, ohne daran zu denken, was dieser Begriff eigentlich bedeutet. Separatisten sind Leute, die mit Ihnen nicht in einem Staat leben wollen. Die Menschen in Donezk sind keine Separatisten in dem Sinne, dass sie aus der Ukraine weg wollen; sie wollen in der Ukraine bleiben. Was sie nicht wollen: Sie wollen nicht in der Ukraine unter der heutigen Regierung leben. Nicht in einer Ukraine, die in pro-europäisch und pro-russisch geteilt ist. Worin der Unterschied besteht, ist mir unklar. Ich finde mich – und mein Land absolut pro-europäisch.“

Nach einer kurzen Pause ergänzt er:
„Viel pro-europäischer als die heutige Regierung in Kiew.“

„Tatsächlich hat sich in den vergangenen 25 Jahren ein allgemeines Verständnis herausgebildet, dass die EU Europa verkörpert und eine Mitgliedschaft der natürliche Schritt eines jeden europäischen Landes sein sollte. Bei Russland stellt sich die Frage, wie Europa mit einem Staat zusammenleben kann, der wenig Interesse an einer Mitgliedschaft hat, die seine Souveränität einschränkt. Es sieht heute nicht nach einem ungeteilten Sicherheitskonzept in Europa aus. Die Schuld wird oft allein bei Russland gesehen. Daraus ergibt sich dann der Schluss, dass Russland nicht zu Europa gehört, sondern den ewigen Störenfried darstellt. Dieses Bild ist zu einfach.“ (Reinhard Krumm)

Auch diese Frage wird sowohl in unserem Gespräch als auch in der abendlichen Podiumsdiskussion immer wieder auftauchen: Wie europäisch ist Russland – und was meint „europäisch“ überhaupt? Zunächst formuliert Grabar jedoch deutlich seine Erwartungen an die ukrainische Regierung:
„Von der ukrainischen Regierung wollen wir nur eins: Sie sollen aufhören, Menschen zu töten. Und sollen beginnen, mit den Menschen zu sprechen. Aber das ist nicht unsere Entscheidung, sondern die von Herrn Poroschenko. Er soll mit den Menschen im eigenen Land sprechen – nicht bombardieren, nicht abschießen. Sondern sprechen. Mehr wollten und wollen wir von ihm nicht.“

Er kommt auf das Minsker Abkommen von 2015 zu sprechen – Russland habe die gleiche Rolle wie Frankreich und Deutschland, nämlich die eines Vermittlers zwischen den Konfliktparteien, umsetzen müssten es aber die Menschen vor Ort. Wir haken nach:

Dennoch sind für die Menschen vor Ort die Ansichten Russlands wichtiger als etwa die von Frankreich…
„Stimmt. Deswegen haben wir unseren europäischen Partnern schon vor diesen Ereignissen immer gesagt, dass man nicht vor die Wahl ‚entweder – oder’ gestellt werden sollte.“

Ungefragt schwenkt Grabar nun in einen Exkurs zur sowjetischen Geschichte und zum multi-ethnischen und multi-religiösen Charakter der Ukraine über. Indirekt verweist er damit auch auf die besondere Sensibilität und auf die Sonderstellung Russlands im Verhältnis zur Ukraine. Dann folgt ein bemerkenswerter Nachsatz mit Blick auf das Nachbarland:
„Man darf sich dort nicht wie ein Elefant im Porzellanladen aufführen. Wir sind sehr vorsichtig mit nationalen und religiösen Themen. Das haben zum Unglück unsere europäischen und vor allem die amerikanischen Partner nicht sehen wollen.“

Wieder wird klar: Grabar sieht die europäischen Staaten in der Verantwortung. Und gleichzeitig betont er:
„Wir sehen auch keinen Unterschied zwischen pro-europäisch und pro-russisch. Wir sind ein europäisches Land. Man muss verstehen, dass die EU und Europa nicht das gleiche sind.“

„Die Gleichsetzung von EU und Europa verengt das Europabild auf die jetzigen Mitgliedsstaaten. Leider ist uns die von Michail Gorbatschow formulierte Idee eines „Europäischen Hauses“ verloren gegangen. Heute hört man in Russland leider sehr häufig, dass Russen sich zunehmend von Europa abgrenzen. Das betont eine Sonderrolle Russlands.“ (Gemma Pörzgen)

Dass die EU zu häufig mit Europa gleichgesetzt würde, merkte er auch wiederholt auf der späteren Podiumsdiskussion an, während im Hintergrund die Flaggen Russlands und der EU hingen. Unsere Frage, wie europäisch Russland heute sei, hat er bereits beantwortet. Wir fragen trotzdem noch einmal explizit:
„Wie europäisch ist Russland? Absolut. Kulturell sind wir ein europäisches Land. Geografisch natürlich nicht nur. Wenn Sie irgendwen in Wladiwostok fragen, ob er Europäer oder Asiate ist, sagt er Ihnen, dass er Europäer ist, natürlich! Obwohl es von Japan nicht weit entfernt ist. Ich denke, ein Tschetschene oder Tatare fühlt sich auch europäisch.“

Das Klären oder das Besetzen von Begriffen; die Suche nach einem Konfliktverursacher oder einem Schuldigen – beides verdeutlicht, wie Außenpolitik von Fragen nach Informationspolitik und der Medienberichterstattung überlagert wird. Das zeigt sich auch, als wir Grabar nach seiner Einschätzung zum Russlandbild der Deutschen fragen und er vor allem zum Thema Medien antwortet:

Wie schätzen Sie das Russlandbild der deutschen Bevölkerung ein und wie hat es sich vielleicht in den letzten Jahren gewandelt?
„Man muss unterscheiden zwischen dem Medienbild und dem Bild in der deutschen Bevölkerung. Da liegt ein Graben, denke ich. Was ich als Ausländer, als ausländischer Diplomat beobachte: Die Situation hat sich sehr verändert. Ich war von Anfang der 2000er Jahre für dreieinhalb Jahre als Pressesprecher tätig und bin mit den Medien sehr gut vertraut. Die Presse ist unglaubwürdig geworden – oder sagen wir: unglaubwürdiger. Die Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und dem geschrieben Wort ist wesentlich größer geworden. Um Gottes Willen werde ich keine Ratschläge geben, aber diese Situation ist aus meiner Sicht besorgniserregend.“

„Was aus meiner Sicht bisweilen im medialen Raum Deutschlands fehlt, ist eine Diskussion, die sich neben der Bewertung der russischen Innenpolitik und einer unverhältnismäßigen Konzentration auf den russischen Präsidenten auch mit den Interessen der russischen Außenpolitik beschäftigt. Die wäre vor allem auf den Meinungsseiten auszutragen.“ (Reinhard Krumm)

 

„Eine zunehmende Schwierigkeit vieler Moskau-Korrespondenten ist leider, dass sie in der russischen Regierung kaum noch Ansprechpartner finden, die Interviews geben und auf Anfragen antworten. Hinzu kommt, dass Teile, vor allem die Kommentierung, aber in den Heimatredaktionen am Schreibtisch entstehen. Dies vermittelt zum Teil ein verzerrtes Bild, das die komplizierte Lebenswirklichkeit oft nur auf Präsident Wladimir Putin reduziert.“ (Gemma Pörzgen)

Pauschale Medienschelte oder gar Worte wie „Lügenpresse“ hören wir von Botschaftsrat Grabar nicht. Dafür berichtet er von einem Moment der Einsicht:
„Ich erinnere mich an die Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen und Geschäftsleuten, als ich in der freien Wirtschaft gearbeitet habe. Als ich sie auf bestimmte Nachrichten, zum Beispiel des ARD, angesprochen habe, meinten sie: ‚Vergiss den Artikel. Du musst die Foren lesen.’ – und da habe ich verstanden, dass das Bild ein ganz anderes ist. Genau das spüre ich auch hier: Es gibt eine bestimmte Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und dem, was in den Medien berichtet wird.“

Was berichtet wird – damit müssen Medienschaffende sich auch selbstkritisch auseinandersetzen. Auch wir, als Rezipienten und als Nachwuchsjournalisten. Gelangen wir zu Pauschalurteilen, wo sie nicht gerechtfertigt sind – und reproduzieren sie womöglich in unserer journalistischen Tätigkeit? Pörzgen glaubt, Journalisten müssten heute mehr und besser erklären, „wie wir arbeiten und uns der Kritik unserer Hörer, Leser und Zuschauer stellen. Sehr wichtig ist eine ehrliche Fehlerkultur, die Versäumnisse offen zugibt und damit konstruktiv umgeht. In der Virtualität vieler Redaktionen fehlt es da manchmal an echtem Bezug zur Lebenswirklichkeit.“ Auch Russland-Experte Krumm sieht Probleme: „Tatsächlich laufen die Bürgerinnen und Bürger Gefahr, zu Pauschalurteilen zu kommen. Davor ist keiner gefeit in einer sehr komplizierten Welt. Umso größer die Verantwortung des Journalisten, so unabhängig wie möglich, so emotionslos wie möglich zu berichten und so bedacht darauf, in einer Geschichte auch Widerhaken einzubauen, die zumindest ein Argument benennen, das der allgemeinen These der Geschichte widerspricht.“
Neben der Frage nach der eigenen Verantwortung von Medienschaffenden stellt sich auch die nach den Möglichkeiten. Können „Fakten-Check-Teams“, wie manche öffentlich-rechtliche Medien oder der Spiegel sie unterhalten, eine Lösung sein? Hier sind unsere Experten ganz unterschiedlicher Meinung: „Ich persönlich finde diese ganzen ‚Fakten-Check-Teams‘ völlig überflüssig“, so Gemma Pörzgen. „Wenn Journalisten ihre Arbeit ordentlich machen, prüfen sie möglichst sachlich Sachverhalte und stellen sie dar. Das ist völlig ausreichend.“ Allerdings müssten dafür Redaktionen ordentlich ausgestattet sein und genügend Personal haben, damit ausreichend Zeit für die Recherche bleibe. „Wichtig ist auch, dass Medienkonsumenten wissen, wie Medieninhalte zustande kommen, und Quellen identifizieren können.“ Anders sieht das Reinhard Krumm, selbst ehemaliger Spiegel-Korrespondent: „Eine Dokumentation, wie es sich der Spiegel leistet, um jeden Artikel auf Fehler hin zu untersuchen, sollte eigentlich den Standard darstellen. Aber so eine Redaktion aus Dokumentarjournalisten kostet natürlich. So obliegt die Qualitätssicherung dem schreibenden Journalisten und der Redaktion.“
Das Gespräch mit Botschaftsrat Grabar zeigte uns, wie wichtig es ist, Begriffe zu klären, um überhaupt in einen Dialog treten zu können. Denn inmitten der gegenwärtigen Vertrauenskrise konkurrieren zwei völlig unterschiedliche Weltbilder und Wahrheiten miteinander, mit verschiedenen Rhetoriken und emotional aufgeladenen Narrativen. Es ist ein Konflikt der Begriffe. Aber auch ein bewaffneter Konflikt, in dem es Tote gibt.


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